Der Kunsthistoriker Rudolf Eitelberger legt Minister Thun mit diesem
Brief einen Aufsatz über die Geschichte und die Bedeutung der
Philosophie für die Universitäten vor. Gleichzeitig erbittet er vom
Minister, dass den Vorständen der Seminare an der Wiener Universität von
Seiten des Ministeriums mitgeteilt werde, dass die Lehramtskandidaten
zum Besuch seiner Kollegien verpflichtet seien. Diese Verpflichtung
hatte ihm nämlich der Minister persönlich mitgeteilt, den Vorständen der
Seminare und den Studenten allerdings nicht.
In dem beigelegten
Aufsatz konstatiert er zunächst, dass die Philosophie aktuell nicht mehr
als erste und führende Wissenschaft angesehen werde. Außerdem werde die
Philosophie aktuell stark von den Naturwissenschaften beeinflusst. Er
sieht darin jedoch keinen Verfall der Philosophie. Vielmehr habe es in
der Geschichte stets Phasen gegeben, in denen die Philosophie einmal
größere, einmal kleinere Geltung besaß. Er ist allerdings davon
überzeugt, dass die Philosophie nie untergehen werde, weil sie ein Teil
des menschlichen Seins sei. Umso wichtiger sei, die Geschichte der
Philosophie stärker zu erforschen. In der Folge versucht er zu
beantworten, welchen Wert die Geschichte der Philosophie für die
Philosophie als Wissenschaft besitze. Dabei betont er die Notwendigkeit,
dass ein Philosoph Kenntnis der Gedanken seiner Vorgänger haben müsse,
um selbst zu einer tieferen Kenntnis der Welt zu gelangen, bzw. um seine
eigenen Gedanken in Ablehnung oder Anlehnung an seine Vorgänger
gestalten zu können. Außerdem erinnere die Geschichte der Philosophie
stets an die grundlegenden Probleme, mit welchen sich die Philosophie
beschäftigen müsse. Nicht zuletzt erforsche und bewahre die Geschichte
der Philosophie das 'Material', die Texte der Philosophen und halte sie
so zur Verfügung der Philosophen. Anschließend behandelt er die Ursachen
und Bedingungen des aktuellen Aufblühens der Geschichte der Philosophie.
Als dritten Punkt behandelt er den Nutzen der Geschichte der Philosophie
als Gegenstand für Vorlesungen. Die Geschichte der Philosophie könne aus
seiner Sicht nicht die Grundlage und auch nicht der Ersatz für ein
gründliches Studium der Philosophie sein. Sie soll nur eine fruchtbare
und notwendige Ergänzung darstellen. Zuletzt betont Eitelberger die
Wichtigkeit von Vorlesungen über Geschichte der Philosophie für
Juristen.
Beilage: Eh. Aufsatz von Rudolf Eitelberger "Über Geschichte der Philosophie und ihre Bedeutung für Universitäten".
Euer Excellenz!
erlaube ich mir in diesem Briefe zwei Bitten vorzutragen, Eine betrifft
beiliegende Blätter, die Andere meine Person.
Euer Excellenz waren so gnädig
gewesen, sich mehrmals mit mir über Geschichte der Philosophie zu besprechen.
Beiliegende Blätter sollen als Ergänzung meiner Worte dienen. Sie behandeln die
einschlägigen Antworten in kürzester Form, und sind nicht für die Öffentlichkeit
bestimmt. Ich bitte, diese Blätter mehr nach dem, was sie anstreben, als dem,
was sie erfüllen, aufzunehmen.
Eine andere Sache betrifft meine zweite
Bitte. Ich bin in meinem Dekrete zu unentgeltlichen Vorlesungen für
Lehramtskandidaten verpflichtet, welche praktisch und demonstrativ sein sollen.
Diese Vorlesungen sind im Sommersemester im akademischen Museum der Gipsabgüsse,
im Winter jetzt dadurch ermöglicht, daß an der Akademie im Laufe dieses Winters
das Materiale für mittelalterliche Kunst vielfach ergänzt wurde.
Ich werde
daher für jedes Sommercollegium ein praktisches Collegium über antike
Kunstarchäologie, für jedes Wintercollegium ein praktisches Collegium über
mittelalterliche Kunstarchäologie ankündigen.
Der Ausführung meiner
Verpflichtung steht nur Ein Hindernis im Wege. Es ist bis jetzt den Vorständen
der Seminarien nicht bekannt gegeben worden, daß mir eine solche Verpflichtung
auferlegt wurde, daß die Teilnahme der vorgeschritteneren Lehramtskandidaten ein
Wunsch des hohen Ministeriums sei.
Ohne eine solche Weisung können die
betreffenden Professoren die Lehramtskandidaten zu einer solchen Theilnahme
nicht auffordern.
Meine Bitte geht nun dahin, an die betreffenden Vorstände
der Seminarien eine Weisung in dem angedeuteten Sinne zu erlassen.
Mit dem
Ausdruck tiefster Verehrung zeichnet sich
Euer Excellenz
ergebenster
Eitelberger
Wien den 22 März 1855
Über Geschichte der Philosophie und ihre Bedeutung für Universitäten
In der Philosophie ist ein Umschwung eingetreten. Sie hat aufgehört, die
Geister vorzugsweise zu beschäftigen, sie hat aufgehört, sich in Opposition
gegen Staat und Kirche zu setzen, zu der sie weniger durch die großen
Philosophen selbst, als durch Geister zweiten Ranges und äußere Verhältnisse
gedrängt worden ist. Sie gewinnt eine selbständige Stellung neben den
anderen Wissenschaften wieder, nachdem sie erfahren hat, daß sie nicht über
allen dominierend und tonangebend stehen kann. Sie kann sich des Einflußes
nicht erwehren, den in dieser Beziehung die positiven Wissenschaften und die
exakten auf sie ausüben.
Nichts ist gefährlicher für die Entwicklung des
menschlichen Geistes, als Einseitigkeit. Die menschlichen Fähigkeiten sind
so mannigfaltig, daß Eine Richtung allein sie weder befriedigen noch
ausmessen kann. Nachdem die philosophischen Systeme so lange nach Einer
Seite hin thätig gewesen sind, ist nun eine Art Stillstand eingetreten, und
nicht bloß dem philosophischen Denken feindliche Geister, sondern auch
solche, welche philosophisch gebildet sind, haben sich positiven Studien,
historischen oder naturwissenschaftlichen Richtungen zugewendet. So sieht
man treffliche Denker, Trendelenburg in Berlin, Lotze in Göttingen, Waitz
in Gießen usf. mit philologischen oder
naturwissenschaftlichen Fragen sich beschäftigen, so blickt in den Schriften
von Stahl, Köstlin und
anderer Rechtsgelehrten die philosophische Bildung deutlich durch, so
betreiben Männer wie Savigny und Puchta positive Studien nicht aus prinzipieller Feindschaft gegen
philosophisches Denken.
Historische, naturwissenschaftliche mehr oder
minder positive Studien haben jetzt die Philosophie in der Hegemonie
abgelöst, welche diese früher allein beanspruchte. Hat damit die Philosophie
aufgehört zu sein? Hat sie deßwegen ihre bildende, erziehende Kraft
verloren? Mit Nichten.
Es hat mehrmals in der Kulturgeschichte Perioden
gegeben, welche der gegenwärtigen gleichen. Es hat im Alterthume Perioden
[ge]geben, wo die Philosophie an der Spitze der geistigen Bewegung stand, im
Mittelalter haben Scholastiker, Nominalisten und Realisten eine Zeit
hindurch in der Wissenschaft ausschließlich geherrscht, und sind in den
wichtigsten Fragen jener Zeit mit zu Rathe gesessen; die neuere Zeit, welche
über ein größeres geographisches Kulturgebiet sich ausbreitet, als Alterthum
und Mittelalter, hat mehr als Einmal das Steigen und Fallen philosophischer
Gedanken in der Wagschaale der Wissenschaft registriert. Sie ist in der
Gegenwart in den Hintergrund getreten – sie wird wieder in den Vordergrund
treten.
Wer eine feinere Beobachtungsgabe für die Bewegungen auf
wissenschaftlichen Gebieten der Gegenwart hat, wird leicht bemerken, daß in
den Naturwissenschaften, in der Jurisprudenz und Theologie Fragen erörtert
oder wenigstens angeregt werden, die nur ein philosophisch gebildetes Denken
lösen kann.
Es giebt zwar einige Stimmen, die aus der bescheidenen
Stellung der Philosophie einen Schluß auf ihre Entbehrlichkeit und ihren
Verfall ziehen. Diese Ansichten gehen meist von denen aus, welche sich
ausschließlich mit positiven Studien beschäftigen, ihre geistige Kraft daher
für Philosophie unempfänglich gemacht und abgestumpft haben, oder jenen, die
sich selbst nie damit beschäftigt haben, und von sich auf alle anderen
schließen; oder endlich von Mathematikern oder Männern der
Naturwissenschaften, welchen die spiritualistische Tendenz, die fast jeder
Philosophie inne wohnt, unbehaglich ist. Glücklicherweise hängt die Existenz
einer jeden Wissenschaft nicht von der Gnade ihrer Gegner ab – sondern von
der geistigen Kraft, welche in ihren Keimen schon in den menschlichen Geist
gelegt wurde, und sich so heraus entwickelt und befestigt hat.
Die
Philosophie überhaupt ist stärker in der Defensive, als in der Offensive –
immer am mächtigsten dann gewesen, wenn sie verfolgt wurde. Sie ist kein
bloßes Machwerk des Menschen; sie gehört zu seinem Berufe.
Aber es ist
begreiflich, daß eine Überschau der philosophischen Systeme in ihrer
geschichtlichen Entwicklung jetzt, mehr als je an der Zeit ist. Fast jedes
größere philosophische Werk beginnt mit einer solchen Rückschau. Zuviel
Gedankensysteme kreuzen sich in der Gegenwart, als daß es nicht
wünschenswerth wäre, deren Ursprung wissenschaftlich zu erörtern.
Die
nachfolgende Skizze, von der Voraussetzung ausgehend, daß Geschichte der
Philosophie ein Bedürfnis sei, erörtert in kürzester Form drei Fragen:
Erstens. Welchen Werth hat die Geschichte der Philosophie für
die Philosophie als Wissenschaft
Zweitens. Welches sind die Ursachen und Bedingungen des
Aufblühens der Geschichte der Philosophie, und
Drittens. Die Geschichte der Philosophie, als Gegenstand für
Universitätsvorlesungen
I. Welchen Werth hat die Geschichte der Philosophie für die
die Philosophie, als Wissenschaft?
Die Bedeutung der Geschichte einer
jeden Wissenschaft für diese selbst ist verschieden, je nach der
Wissenschaft selbst. Es giebt Wissenschaften, welche die Resultate
sämmtlicher Forschungen so vollständig in sich aufnehmen, daß die Geschichte
dieser Wissenschaften nur ein historisches oder gelehrtes Interesse
abgewinnen kann; der Werth einer solchen Geschichte ist daher nur ein
sekundärer für die Wissenschaft selbst. Man kann ein großer Mathematiker
sein, ohne darauf Anspruch zu machen, die Geschichte der Mathematik als
solche mit wissenschaftlicher Gründlichkeit zu kennen, man kann ein großer
Chemiker sein, ohne auch nur im Entferntesten Notiz genommen zu haben von
den Bestrebungen des klassischen Alterthums und des Mittelalters auf
chemischen Gebieten. Es giebt eine ganze Reihe von Wissenschaften, bei denen
es ihrer selbst willen nicht unbedingt nöthig ist, sich mit der Geschichte
derselben zu beschäftigen, und die Frage ihres Ursprunges und ihrer
Fortbildung wissenschaftlich zu erörtern.
Es giebt aber auch
Wissenschaften, die um ihrer selbst willen, eine mehr oder minder gründliche
Behandlung ihrer Geschichte von allen denen verlangen, welche sich mit ihr
beschäftigen, wo man sich im Besitze des Objektes einer solchen Wissenschaft
nur durch ein Studium der Geschichte derselben setzen kann. Dahin gehören
die historischen Wissenschaften selbst, dahin gehören jene Wissenschaften,
die eine positive Grundlage haben, oder deren Objekt selbst, in folge
historischer Prozesse geworden, daher nur durch das Eingehen in diese selbst
gewißermaßen wiedergewonnen werden kann, das heißt die theologischen und
juridischen Wissenschaften.
Bei den historischen, theologischen und
juridischen Wissenschaften bringt es die Natur derselben mit, daß die Männer
der Wissenschaft sich mehr oder minder mit der Geschichte derselben, oder
mit der Geschichte einzelner Zweige derselben beschäftigen, und eine
Geschichte dieser Wissenschaften entweder für nützlich oder für
unentbehrlich halten. Gänzlich kann die Geschichte dieser Wissenschaften
nicht umgangen werden, man muß wenigstens Notiz von dem nehmen, was in
früheren Jahrhunderten auf diesen Gebieten gedacht, geforscht und angestrebt
wurde.
Anders ist es mit der Philosophie. Ihre Macht ruht in dem des
Gedankens als solchem. Sie hat ihr Objekt nicht in der Außenwelt vorliegend,
wie die Naturwissenschaften, ihr Objekt ist kein gegebenes, weder durch eine
göttliche noch menschliche Satzung. Sie hat daher keine ausschließlich
positive Grundlage, wie theologische Wissenschaften, keine vorzugsweise
geschichtliche Grundlage, wie die historischen oder Rechtswissenschaften.
Sie geht neben allen diesen Wissenschaften einher, ihr eigenes Gebiet mit
den Worten des Archimedes wahrend:
noli turbare circulos meos! Der Werth der Geschichte der Philosophie muß
nicht nach dem Werth gemessen werden, den die Geschichte anderer
Wissenschaften für diese hat. Er muß aus ihr heraus erklärt und festgestellt
werden.
Daraus erklärt sich der Gebrauch, den alle großen Philosophen
von der Geschichte der Philosophie gemacht haben. Sie haben bei ihren
Studien in Geschichte der Philosophie mehr oder minder einen
Anknüpfungspunkt an frühere Systeme gesucht, die theilweise auch die
Ausgangspunkte ihrer Forschungen geworden sind. So knüpfte Schelling und Hegel theilweise an Spinoza an, die Herbart’sche Schule
griff häufig nach Leibnitz zurück, Kant
fußte auf Hume und Locke, die französischen Denker
gehen mitunter auf René
Descartes zurück, die englischen auf Baco von Verulam, - die Scholastiker des
Mittelalters, die großen Denker des christlichen Alterthumes fußen
theilweise auf Aristoteles und Plato, wie die arabischen Denker Averroës und Avicénna; kurz jede größere philosophische Richtung
knüpft in irgend einer Weise ihre Gedankenwelt an eine frühere an, indem sie
diese fortsetzt und fortbildet, oder ihr entgegentritt und Neues
hinzustellen sucht. Aber die geistige Kraft eines Systemes ruht nicht auf
dieser geschichtlichen Grundlage, sondern es hat in dem treibenden Gedanken
sein Fundament, den es in seinem Prinzipe, seiner Methode und deren
Konsequenzen enthüllt.
Jeder Philosoph, der Philosoph von Beruf ist,
zieht sich dahin auf seine Gedankenwelt zurück, bildet diese in seiner
eigenthümlichen Weise aus, und nimmt auf andere frühere oder gleichzeitige
Systeme nur insofern Rücksicht, als es zur Ausbildung, Läuterung oder
Vertheidigung seines Systemes nothwendig ist. Wenn man daher wissen will,
was Geschichte der Philosophie für Philosophen ist, so muß man nicht die
Gegner der Philosophie, sondern die Philosophen selbst zu Rathe ziehen. Und
sicher wird jeder, der die rein philosophischen Fundamentalwerke
philosophischer Systeme vor sich gehabt hat, als: Kants Kritik der reinen Vernunft, Hegels
Phänomenologie des Geistes und Logik, Herbarts größere Metaphysik, die
Ethik Spinoza’s, das Organon
und die Metaphysik des Aristoteles
und andere mehr. Ich sage Jeder, der diese Werke kennt, der wird darin
bestättigt finden, daß Geschichte der Philosophie, Philosophen etwas ganz
Anderes ist, als es Laien in der Regel scheint.
Die Geschichte der
Philosophie hat daher für die Wissenschaft der Philosophie nicht die
Bedeutung, als ob gewißermaßen ein System das andere widerlegt oder
aufgehoben hätte. Die Philosophie macht es mit ihren Systemen nicht so wie
Kronos, der seine Kinder kaum erzeugt und geboren, wieder verschlingt, um
wieder neue zu erzeugen.
Die Geschichte der Philosophie ist kein
Aggregat von bloßen Systemen, keine bloße nach historischen Grundsätzen
abzufassende geschichtliche Erzählung des Lebens und der Grundsätze der
verschiedenen Philosophen. Wäre sie bloß das, so würde sie nicht unähnlich
sein einer Geschichte von Irrfahrten auf dem Gebiete des menschlichen
Geistes. Die Geschichte der Philosophie, kann ohne Einsicht in die
treibenden Gedanken derselben nicht unternommen werden. Ohne diese bleibt
die Geschichte der Philosophie ein verschlossenes Buch, eine Schrift, deren
Züge man wahrnimmt, ohne ihren Sinn zu verstehen.
Die Geschichte der
Philosophie in ihrer Totalität, bildet nicht den Ausgangspunkt der
gegenwärtigen Philosophie. Nicht mit der Kritik der philosophischen Systeme
kann eine Philosophie anheben oder von einer solchen ausgehen. Eine Kritik
philosophischer Systeme kann erst unternommen werden, wenn man sie selbst in
den Besitz der Principien eines Systemes gesetzt hat. Was Archimedes dem König Hiero zurief: „Gieb mir einen Punkt, wo ich stehe,
und ich will die Erde bewegen.“ Dies gilt gewißermaßen von der Philosophie,
die zur Bewegung der Gedankenwelt Anderer einen festen Punkt braucht, auf
dem sie steht. Diesen Punkt findet sie in ihren metaphysischen Principien.
Diese als solche sucht sie festzustellen. Von diesen geht sie aus und reicht
über Jahrhunderte hinüber verwandten Geistern die Hand; aber von einem
Überblicke, von einer kritischen Einsicht in die Geschichte der Philosophie
hebt die Philosophie nicht an, damit endet sie, wenn sie ihr System in sich
abgeschlossen und beendet hat. Wie die Methode philosophischen Forschens und
Denkens weit entfernt ist von der so genannten geschichtlichen Methode, so
ist auch die Geschichte der Philosophie etwas ganz Anderes für Philosophie,
als die Geschichte jener Wissenschaften, bei denen die historische Methode
in Anwendung kommt, für diese Zweige der Wissenschaft ist.
Für die
Wissenschaft der Philosophie hat die Geschichte der Philosophie eine
doppelte Bedeutung:
Erstens – und das ist ihre vorzüglichste, wenn auch
von der Laienwelt am wenigsten beachtete – hält die Geschichte der
Philosophie aufrecht die Probleme der Philosophie selbst, damit diese selbst
nicht vergessen werden, wenn die Philosophie einer bestimmten Zeit entweder
ausschließlich oder mit besonderer Vorliebe einzelne Probleme behandelt,
andere bei Seite liegen läßt, – oder wenn die Gedankenbewegung einer Epoche
die Fortbildung der rein philosophischen Probleme oder die Ausbreitung
ausgebildeter und gelöster Probleme in den Hintergrund drängt. In beiden
Fällen hat die Geschichte der Philosophie eine große Aufgabe zu erfüllen. In
dem Einen Falle rettet sie die Philosophie selbst vor Vergessenheit oder
Verkennung, in dem anderen Falle hingegen tritt sie der Einseitigkeit
herrschender Systeme mit Hinweisung auf verschollene, oder gering geachtete
Probleme, welche Denker einer früheren Zeit zum Objekte ihres Denkens
gemacht haben, entgegen. Diese Aufgabe hat die Geschichte der Philosophie in
unseren Tagen zu erfüllen, wo sich die philosophische Spekulation in
Verfolgung ihrer Grundsätze in einseitigen Anschauungen verrannt hat, und wo
von den Gegnern der Philosophie ihr Objekt streitig gemacht wird. Letzteren
hat sie die Aufgabe der Philosophie als solcher aus ihrer geschichtlichen
Entwicklung nachzuweisen, ersteren hat sie die Lücken aufzuzeigen, die sich
in der gegenwärtigen Gedankenwelt im Vergleiche mit der älterer Perioden
vorfinden.
Zweitens hat die Geschichte der Philosophie für die
Philosophie selbst insoferne eine Bedeutung, als sie als „Geschichte“
ausgehend von den Grundsätzen geschichtlicher Forschung ein wissenschaftlich
festgestelltes Material für eine Reihe wichtiger, wenn auch für die
Philosophie oft sekundärer Daten liefert. Sie bringt den kritisch
gesichteten Apparat gelehrter Bestrebungen im
literarisch-biographisch-bibliographischen Theile; sie bringt
kulturhistorisch wichtige Momente aus der Entwicklungsgeschichte der
Philosophie; sie stellt die Systeme der Philosophien nach dem Urtexte genau
und gewissenhaft hin. Sie unterstützt daher den Philosophen als solchen in
solchen Dingen, die er selbst zu bearbeiten in den seltensten Fällen Muße
und Neigung hat.
Darin liegt der Werth und die Bedeutung der Geschichte
der Philosophie für die Philosophie.
II. Welches sind die Ursachen und Bedingungen des Aufblühens
der Geschichte der Philosophie?
Die Geschichte der Philosophie geht aus
den wissenschaftlichen Bedürfnissen einer Zeit hervor, die sich über
philosophische Systeme als solche orientieren will. Sie beginnt erst dann,
wenn die Philosophie selbst eine größere Reihe von Systemen hervorgerufen
hat, und nicht bloß eine Vertiefung, sondern auch eine Verbreitung von
philosophischen Gedanken eingetreten ist. Aristoteles ist unter den griechischen
Philosophen der erste, der in seiner Metaphysik, in der Schrift „Über die
Seele“ in kleineren ihm zugeschriebenen Abhandlungen über Melissos, Xenophanes und Gorgias usf. eine Geschichte der Philosophie
Griechenlands giebt. Seit Aristoteles scheint es bei griechischen und römischen Denkern
Regel geworden zu sein, geschichtliche Überblicke bei passender Gelegenheit
vorzunehmen. Diese Überblicke aber geschehen durchaus nur, um Einsicht in
die Prinzipien und Ideen der Philosophen zu bekommen. Aller gelehrter
biographischer oder literarischer Apparat fällt weg. Erst in späteren Zeiten
scheint, wie uns Diogenes Laërtius
zeigt, oder wie Beispiele in der Literatur der Alexandriner vorkommen,
Geschichte der Philosophie selbständig behandelt worden zu sein.
In den
neueren Zeiten wird Geschichte der Philosophie seit den Bestrebungen des
Augsburgers J[ohann] J[akob]
Brucker
1 fast ausschließlich von Deutschen behandelt. Die meisten
deutschen Werke sind in fremde Sprachen übersetzt worden, erst jüngst das
kleine Kompendium von Tennemann (bei uns, längst veraltet und unbrauchbar geworden) in
das Italienische2; – in Italien wurde es fast
auf den Index gesetzt, in Oesterreich wurde es
früher an sehr vielen philosophischen Fakultäten gebraucht, wo Geschichte
der Philosophie als außerordentlicher Gegenstand in einem zweistündigen
Colleg gelesen wurde.
In Oesterreich wurde
bisher Geschichte der Philosophie fast gar nicht betrieben. Sie ist die
Frucht philosophischer Bestrebungen. Wo diesen selbst kein Spielraum gewährt
wird, wo, wie es früher der Fall war, jedes Streben auf philosophischem
Gebiete von Staat und Kirche gleichmäßig entweder verfolgt, oder mit
mißtrauischem Auge beobachtet wurde – wer kennt nicht die Angriffe selbst
auf Männer wie Likawetz, Rembold,
Lichtenfels usf.? Wer
weiß nicht, daß bis jetzt jedes philosophische System mit einem Damnatur
belegt wurde? Da war selbst ein bloßer Versuch eine gewagte Sache,
unternommen mit gebrochenem Muthe, mit Schwanken und zagenden Gedanken.
Haben da wohl die Versuche von Lichtenfels, Hanusch
und Stanke einen anderen
als kulturhistorischen Werth? Bezeugen sie etwas anderes, als den Mangel
eines wissenschaftlichen Bodens, den Mangel einer wissenschaftlichen
Bestrebungen gegenüber duldsamen Zeit? Wie steht das Gebäude deutscher
Gedankenwelt in sich geschlossen und erhaben? Seine leuchtenden Strahlen
wirft es gegenwärtig über die ganze gebildete Welt; seine Macht müssen
selbst seine Gegner anerkennen, die philosophisch gebildeten Geister Amerikas, Englands, Frankreichs und Italien knüpfen an
die Resultate deutscher Philosophie an.
In Deutschland waren zwei Umstände den Bestrebungen auf dem Gebiete
der Geschichte der Philosophie günstig:
Erstens, war und ist seit mehr
als Einem Jahrhundert das philosophische Denken ein geduldetes, oft ein
begünstigtes, selten etwas Verpöntes. Es war daher immer ein lebendiges
Bedürfnis vorhanden, sich um die Gedankenwelt früherer Zeiten zu bekümmern,
sich mit dem großen Strome menschheitlicher Bildung in Berührung zu
setzen.
Zweitens, waren auch die Vorbedingungen –
historisch-philologische Bildung, der Geist wissenschaftlicher Kritik –
vorhanden, um zu den Urquellen nicht mit gebundenen Augen, nicht mit
verschlossenen Sinnen zu gehen.
In Oesterreich fehlte
beides. Nur die Günther’sche
Philosophie hatte Boden gewonnen, und sich in größeren systematischen Werken
auf rein philosophische Fragen eingelassen. Sie war zwar auf Lehrkanzeln
fast gar nicht zugelassen, in der Literatur aber geduldet, weil sie sich
bestrebte, die Dogmen der katholischen Kirche gegen ihre protestantischen
Gegner durch spekulative Raisonnements zu vertheidigen. Günther, Pabst, Veith, Hock, Löwe hatten auch Geschichte der
Philosophie betrieben; sie hatten zum Theil die neuere deutsche und
französische Philosophie, nachdem der Standpunkt einmal gewonnen war,
beleuchtet, und im Zusammenhange erörtert, oder sich – wie Hock in früherer Zeit, Löwe in der jüngsten – in älteren
Philosophen nach Anknüpfungs- und Stützpunkten umgesehen, vorzugsweise nach
Cartesius.
Neben der
Güntherschen Philosophie waren es nur Herbartianer und Bolzanisten, die sich
in kleinerem Maßstabe aus denselben Bedürfnissen mit anderen älteren oder
neueren Systemen beschäftigten, z.B. Exner polemisch gegen die Hegelsche Psychologie und Rosenkranz, Zimmermann mit Leibnitz; letzterer
jedoch erst in der jüngsten Zeit.
In der Gegenwart hat sich vieles
gebessert. Der Wissenschaft ist ein selbständiger Boden eingeräumt worden.
Philologische und historische Wissenschaften, früher nur zu pädagogischen
oder propädeutischen Zwecken betrieben, werden ihrer selbst wegen gelehrt.
Geschichte und Philologie, die Vorbedingungen selbständiger forschender
Thätigkeit auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie umfassend und
eingehend gelehrt. Es ist ohne Zweifel, daß sich in den nächsten Jahren eine
Reihe jüngerer Kräfte finden wird, welche sich der Geschichte der
Philosophie zuwenden dürfte.
In allen Kreisen wird aber eine andere
Befürchtung ausgesprochen. Geschichte der Philosophie wird nicht ihrer
selbst willen getrieben, sondern der Philosophen wegen. Es lehren zwar
gegenwärtig an drei Hochschulen (Gratz,
Prag, Wien) Philosophen, oder wenigstens philosophisch gründlich
gebildete Geister. Es machen sich verschiedene Ansichten an verschiedenen
Hochschulen geltend. Es wird heut oder morgen kommen, daß das gesprochene
Wort ein gedrucktes sein wird. Wie wird es mit der Duldung des
philosophischen Gedankens in Oesterreich aussehn?
Wird das System adoptiert werden, das die Philosophie nur als „Magd der
Theologie“ anerkennt? Das bis jetzt über alle philosophischen Systeme den
Stab gebrochen hat? Wird die große Täuschung, als ob die Philosophie todt
sei, als Mehrheit an unserer Hochschule proklamiert werden?
Welches
System wird, nachdem der Güntherianismus verurtheilt, der Krausianismus
verdächtigt, der Herbartianismus als atheistisch erklärt, und die älteren
Systeme als rationalistisch in Bausch und Bogen über Bord geworfen wurden,
welches System wird übrig bleiben? Wird dieses dann Philosophie bloß heißen
oder es auch sein? An welchen Gedanken, an welche in der Philosophie
anerkannten Gedanken wird sich eine Geschichte der Philosophie, eine Kritik
der philosophischen Gedanken anschließen können und dürfen?
Das sind die
Fragen, welche in allen höheren wissenschaftlichen Kreisen jetzt mit
Lebhaftigkeit besprochen werden, von deren Beantwortung allein es abhängen
wird, ob Oesterreich in der
nächsten Zukunft eine Philosophie und eine Geschichte derselben in
wissenschaftlichen Werken haben wird.
Die Philosophie verlangt vom
Staate keine Protektion; sie verlangt von Kulturstaaten nur Duldung. Sie
bricht sich dann leicht Bahn. Die Geschichte der Philosophie seit Descartes und Spinoza hat es gezeigt, daß die Macht der
Philosophie nicht an Personen oder Bücher gebunden ist. Die Menschheit
braucht die Philosophie, als selbständige geistige Potenz. Sie hat dieselbe
zu keiner Zeit entbehren können. Wird unsere von materiellen Interessen
überfluthete Zeit sich ihr entziehen, wird sie es missen können, daß die
höchsten Fragen menschlichen Denkens läuternd, erhebend und beruhigend auf
die Geister der wissenschaftlich gebildeten Welt hinübergreifen? Den
Naturwissenschaften, der Mathematik, der Industrie überläßt man es ruhig –
da muß man es wohl – in der großen Hälfte der Welt den Materialismus zum
Lebensgesetz erheben, wird man der Philosophie, der geborenen Gegnerin bloß
materieller Bestrebungen, es wehren wollen, ideelle Interessen zu vertreten?
Hand in Hand gehend mit den geistigen Bestrebungen zur Hebung der Kultur im
Staate verliert sie ihre ätzende Schärfe. Sie ist unter Perikles und Alexander dem Großen, unter Hadrian und Antonin mit den höchsten Trägern der
Staatsgewalt gegangen; sie hat mit großen Päbsten des XV bis XVI
Jahrhunderts, mit den Mediceern gemeinschaftlich die Kultur Italiens
begründet; sie hat sich nicht hineingemischt in die Reformationsbestrebungen
Luthers, sie hat in Deutschland keine
Revolutionsbewegung hervorgerufen, wo ihr an einzelnen Höfen und Hochschulen
eine ruhige Stätte geboten wurde, während die Verfolgungen in Frankreich die
philosophischen Geister zur Opposition gegen die Staatsgewalt drängten. Fast
alle Philosophen Deutschlands im und seit dem Jahre 1848 stehen, wenn nicht
auf Seit der streng konservativen, so doch der gemäßigten Parthei. Kein
Philosoph hat sich an den Revolutionswirren direkt betheiligt. Der Natur der
Philosophie ist dieß zuwieder. Wird man sich aller Orten dieser Thatsachen
erinnern, wird man sich erinnern, daß zu der Zeit, wo Hegel, Spinoza, Kant in Oesterreich verboten
war, ihre Schriften am meisten gelesen wurden, und daß der [sic!] Verbot von
Schriften und Lehren am meisten beitrug, die Philosophie als Angriffswaffe
gegen den Staat zu benützen und sie so zu mißbrauchen?
III. Die Geschichte der Philosophie, als Gegenstand für
Universitätsvorlesungen
Geschichte der Philosophie wird beinahe an allen
Universitäten gelesen. Der Gegenstand greift zu sehr in die verschiedensten
Zweige menschlichen Wissens ein, ist zu einer universellen Geistesbildung zu
nothwendig, und an und für sich auch zu reizend, als daß nicht jeder
strebende Jüngling wenigstens eine Übersicht der Hauptsysteme kennen zu
lernen wünschen sollte. Wer sich dann mit Geschichte der Kultur, mit alter
Geschichte oder mit klassischen Studien beschäftigt, der ist genöthigt, in
einzelne Details tiefer einzudringen. Der Candidat der Theologie und
Jurisprudenz und endlich jener, der sich der Philosophie als Fach zuwendet,
muß endlich ein mehr oder minder umfassendes Studium
vornehmen.
Geschichte der Philosophie kann aber das Studium der
Philosophie selbst nicht überflüßig oder entbehrlich machen. Wer zum Studium
der Geschichte der Philosophie schreitet, muß klar sein in den
Grundbegriffen der Philosophie. Er muß in die Schwierigkeiten, in die
Terminologie Einsicht genommen haben, er muß wissen, um was es sich in der
Philosophie handelt.
Man kann Philosophie mit der Geschichte der
Philosophie eben so wenig beginnen, als Mathematik mit einer Geschichte der
Mathematik. Die philosophische Propädeutik, Psychologie und Logik ist nicht
geeignet, die Grundbegriffe der Philosophie klar zu machen. Das kann nur
durch Metaphysik und Ethik geschehen; diese führen in das Herz der
Philosophie.
Wer mit Geschichte der Philosophie beginnt, wird entweder
oberflächlich oder konfus.
Er wird oberflächlich, weil er den tieferen
metaphysischen und ethischen Fragen ausweichen muß und nur die allgemein
verständlicheren, populären verstehen kann, – oder er wird konfus, weil er
eine Menge philosophischer Formeln im Kopfe haben wird, und es ihm unmöglich
sein muß, sie zu verstehen, zu ordnen und zu übersehen.
Es ist zwar von
manchen Seiten vorgeschlagen worden (besonders von und für Juristen), daß
man mit einer Geschichte der Philosophie beginnen, und tieferer
philosophischer Studien entbehren könne. Ich gestehe aber, daß es mir
vorkommt, jene, welche diesen Vorschlag machten, haben entweder keine
Einsicht in die Eigenthümlichkeiten philosophischer Studien, oder keine
Lust, Philosophie und philosophische Bildung zu fördern. Was soll es einem
Juristen nützen, wenn er die ethischen Grundsätze von Kant oder Aristoteles kennen lernt, ohne zu wissen, wie diese mit den
metaphysischen Grundlehren dieser Philosophen zusammenhängen? Wird Jemand
die pantheistischen Lehren der Moral (z.B. Spinoza) wiederlegen können, der nicht die
Grundsätze kennt, deren Konsequenzen jene sind? Wird Jemand die Lehre von
der Freiheit des Willens, der Zurechnungsfähigkeit in den verschiedenen
Systemen auch nur annäherungsweise begreifen, der nicht in der Ethik
gründlich über Freiheit des Willens, in der Metaphysik über den Grundbegriff
der Seele aufgeklärt wurde? Glaubt aber Jemand, daß es überflüßig sei, diese
Fragen philosophisch erörtert zu haben, so ist es sicher ein noch unnützerer
Ballast, zu wissen, was andere ältere längst schon begrabene Denker über
diesen Gegenstand gedacht haben.
Man kann nicht mit der rechten Hand die
Geschichte der Philosophie herbeiziehen, und mit der linken die Philosophie
vor sich stoßen. Man hat Recht, einzelne gefährliche Lehren und Lehrer von
Hochschulen zu entfernen, aber man hat deßwegen nicht nöthig, die
Philosophie an und für sich für nutzlos oder gefährlich, für eine bloße
Sisyphusarbeit des menschlichen Geistes zu erklären, und die Geschichte der
Philosophie für eine Geschichte menschlicher Bestrebungen, das Unerreichbare
zu erreichen.
Auch ist es für die Universitätsjugend nicht gleichgültig,
wer Geschichte der Philosophie lehrt. Mit Nutzen können Geschichte der
Philosophie nur Philosophen von Fache, – oder jene Gelehrte lehren, die
eingehend Quellenstudien auf diesem Gebiete gemacht haben.
Von
Philosophen wird ein jüngerer Mann die Einsicht in den Zusammenhang
philosophischer Doktrinen gewinnen, er wird tief in die Prinzipien und in
die philosophische Kritik eingeführt werden. So haben es z.B. Strümpel in der Geschichte
der griechischen Philosophie gethan. Der erste Band behandelt bloß die
theoretische Philosophie im Zusammenhange und erklärt historisch die Genesis
rein theoretischer Grundbegriffe. So hat es Schleiermacher in den „Grundlehren
einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“ Berlin 1803 gethan. Solche Bücher,
Vorträge solcher Art sind unendlich belehrend und anregend. So ist das
jüngere Fichte Werk
„Die philosophischen Lehren von Recht, Staat und Sitte“ Leipzig 1850, so der
erste Band von Stahls
„Philosophie des Rechts von geschichtlicher Ansicht“ bedeutend, weil beide
Werke eine von philosophischem Standpunkte ausgehende Kritik einzelner
Doktrinen geben. So waren einzelne kleinere Schriften von Herbart, Trendelenburg u.a.m. auf
diesem Gebiete befruchtend.
Wenn aber Philosophen von Fach nicht
vorhanden sind, welche sich mit der Geschichte der Philosophie beschäftigen,
so werden mit Nutzen nur Gelehrte lesen, welche der Universitätsjugend die
Quellen eröffnen, aus denen die Geschichte der Philosophie schöpft. Sie
lehren, eingehend Schriftsteller behandeln und interpretieren, treten der
Oberflächlichkeit, einem seichten Urtheilen entgegen, und die
Schwierigkeiten überwinden, die der Lektüre älterer philosophischer
Schriftsteller entgegenstehen. Dieß ist insbesonders bei solchen
Schriftstellern nothwendig, die wie Plato, Aristoteles seit
mehr als zwei Jahrtausenden nicht aufgehört haben, die Gebildeten aller
Nationen in allen Weltgegenden zu beschäftigen. Nach diesen Richtungen hin,
haben Heinr[ich] Ritter in Göttingen, Brandis in Bonn, Böckh in Berlin, u.a.m.
vortrefflich gewirkt; in Oesterreich ist es
gegenwärtig nur H[ermann]
Bonitz, der eingehend alte Philosophen behandelt, wenn er auch nur
vorzugsweise philologisch dieselben interpretiert.
Endlich ist es
wünschenswerth, wenn von Zeit zu Zeit übersichtliche Vorlesungen an
Universitäten gehalten werden, theils um Standpunkte zu geben, theils um den
Bedürfnissen jener Studierenden zu genügen, die nur zu einer allgemeineren
Orientierung Muße haben.
Es kann noch die Frage aufgeworfen werden, was
soll die Geschichte der Philosophie jüngeren Juristen sein?
Es scheint
mir Erstens: daß die Geschichte der Philosophie Juristen das Studium der
Philosophie nicht entbehrlich macht, womit ich nicht die Ansicht
ausgesprochen haben will, daß die Philosophie Juristen ein obligater
Gegenstand oder Gegenstand einer Staatsprüfung sein sollte.
Zweitens:
daß Geschichte der Philosophie Juristen nur dann von Nutzen sein [wird],
wenn er Einsicht genommen hat in die Probleme der Philosophie im Allgemeinen
und der Rechtsphilosophie im Speziellen. Dann erst wird ihm die Geschichte
der Philosophie lehren, in welchem Zusammenhange einzelne Lehren und
Ansichten von Rechtsphilosophen mit den philosophischen Systemen stehen, auf
denen sie fußen, und auf welche Weise sich einzelne Rechtsbegriffe aus
philosophischen Systemen entwickelt haben; jene Rechtsbegriffe nämlich,
welche in die Rechtstheorie oder Praxis einer bestimmten Epoche übergegangen
sind.
Drittens: endlich wird das Studium der Geschichte der Philosophie
dazu beitragen, den geistigen Horizont eines Juristen zu erweitern, sie wird
ihn vor jener Einseitigkeit bewahren, in welche vorzüglich jene Studierenden
zu verfallen drohen, die sich ausschließlich positiven Studien zuwenden, und
bei diesen Studien den Broderwerb vor Augen haben.