Memorandum über die Situation der orthodoxen Kirchen
o. Autor [August Haxthausen] o. D. [1857/58]1
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Regest

Der Jurist und Agrarwissenschaftler August Haxthausen berichtet über die großen Umwälzungen und Probleme, welche den Fortbestand der orthodoxen Kirche bedrohen. Die größten Gefahren für die Kirche sieht er in der modernen Kultur, der sie, in strengen Zeremonien und Formalismus gefangen, nichts entgegensetzen könne. Außerdem setzten die nationalen Bestrebungen der Einheit der orthodoxen Kirche heftig zu, so dass sich die Kirchen mehrerer Länder der Herrschaft des Patriarchats von Konstantinopel entzogen haben. Russland hatte diesen Schritt schon vor zwei Jahrhunderten vollzogen, in jüngster Vergangenheit folgten Griechenland und die Länder des Balkans. Haxthausen betont außerdem, dass die schlechte Ausbildung des Klerus' dazu geführt habe, dass die Priester den aus dem Westen Europas eindringenden modernen Strömungen nichts entgegensetzen konnten.
In der Folge geht Haxthausen auf die Situation der russisch-orthodoxen Kirche ein, der größten Gruppe innerhalb der orthodoxen Kirchen. Diese Kirche hatte bis zum Einfall der Mongolen auch eine einigermaßen starke Bindung zu Rom. Danach versank die russische Kirche allerdings in einer tiefen Krise und kam vollkommen unter die Herrschaft des Zaren, der das neu geschaffene Patriarchat in Moskau als Machtmittel benutzte. In der Folge berichtet Haxthausen von den Bestrebungen Peters I. auf dem Gebiet der Kirchenpolitik. Anschließend schildert er den zunehmenden Einfluss der protestantischen Theologie auf die Kirche. Negativ wirke sich auch der Abfall der sogenannten Altgläubigen aus. Dieses, auf den ersten Blick, kirchliche Schisma gehe im Kern auf eine politische Spaltung zwischen altrussisch orientierten Kräften und solchen, die sich stärker an Europa orientieren, zurück. Da der Zar auch das Haupt der orthodoxen Kirche ist, werden die Altgläubigen auch in politischer Beziehung als Abtrünnige behandelt, für die das bürgerliche Recht nicht gilt. Um diese missliche Situation zu lösen, wurde daher bereits ins Auge gefasst, dass der Zar seine dominierende Position an der Spitze der Kirche aufgeben solle. Allerdings ist damit die Frage verbunden, ob man sich dann wieder Konstantinopel oder Rom unterstellen solle oder es besser sei, ein eigenes russisches Patriarchat zu bilden. Haxthausen erörtert die Gründe, welche für bzw. gegen die einzelnen Optionen sprechen und kommt zum Schluss, dass der Zar am wenigsten Macht und Ansehen einbüße, wenn die Kirche sich Rom unterstellte. Für ein solches Projekt gäbe es außerdem zahlreiche Fürsprecher und Gebetsvereine, so dass man aus seiner Sicht berechtigte Hoffnung auf eine Vereinigung haben dürfe. Eine mögliche Lösung sieht er in darin, dass sich die russisch-orthodoxe Kirche der griechisch-unierten Kirche anschließe. Dazu solle die Ausbildung des unierten Klerus verbessert werden, wozu auch die katholischen Orden durch die Errichtung von Konvikten beitragen könnten.

Anmerkungen zum Dokument

Unter der Signatur ist eine zweite Version des Memorandums abgelegt, die weitgehend gleichlautend zur hier transkribierten ist.

http://hdl.handle.net/21.11115/0000-000B-DB28-2

Schlagworte

Edierter Text

Memorandum

Die orientalische Kirche geht in diesem Augenblicke nicht blos großen innern Evolutionen, sondern wie es scheint, offenbar ihrer innern Auflösung entgegen. Sie besitzt zwar die Dogmen und sakramentalischen Heilsmittel der katholischen Kirche, allein da ihr das Papsthum, das lebendige centrum unitatis, das wahre Palladium ächter geistiger Freiheit fehlt, so hat sie keine selbstständige Theologie, keine geistliche Wissenschaft entwickeln können. Sie ist versteinert in ihren äußeren Formen und Ceremonien und vermag nirgends den Angriffen der von allen Seiten auf sie eindringenden occidentalen modernen Cultur mit ihren revolutionären, alles geistliche zu zersetzen strebenden Tendenzen geistig zu widerstehen. Dem fanatischen aber bornirten türkischen Mohamedismus gegenüber hat sie allerdings eine große Lebensfähigkeit gezeigt, allein das Türkenthum hat trotz seiner Verachtung gegen das Christenthum 4 Jahrhunderte hindurch ihren inneren Zusammenhang, ihre mechanische Einheit aufrecht erhalten, indem es das Patriarchat von Konstantinopel als einheitliche Handhabe benutzte, um die orientalischen Geister zu regieren und im Zaume zu halten.
Bei dem allmäligen Zerfalle der türkischen Herrschaft und seit der letzten orientalischen Katastrophe ist nun aber die innere und äußere Zersetzung der in den sämmtlichen Ländern der ehemaligen Türkei bestehenden orientalischen Kirche sichtbar geworden. Äußerlich hat sie insbesondere den Bestrebungen der einzelnen Nationalitäten nach Unabhängigkeit nicht zu widerstehen vermocht. Eine Nationalität nach der andern fällt vom Patriarchenstuhl in Constantinopel ab und versucht, sich als besondere unabhängige Kirche zu formieren. Schon im 16. Jahrhunderte formierte sich Rußland als ein die Jurisdiktion und Leitung des Patriarchen in Constantinopel nicht mehr anerkennendes Patriarchat. Nachdem dann Griechenland in diesem Jahrhundert das Joch der Türken abgeworfen, trennte auch dieses sich vom Patriarchat und setzte in ähnlicher Weise wie früher Peter I von Rußland eine nicht vom Staate, aber wohl vom Patriarchenstuhle in Constantinopel unabhängige Synode ein. In neuester Zeit hat sich die schismatische slawische Kirche in Österreich vom Stuhl in Constantinopel als unabhängig erklärt, darauf Serbien, dann neuerdings die Moldau und Wallachei. Bosnien, die Herzegowina und Bulgarien stehen in fast offener Empörung gegen ihren griechischen phanariotischen Clerus, wollen nationalen slawischen Ritus und slawischen Clerus, und stehen im Begriffe neue kleine unabhängige Nationalkirchen zu bilden. Schon jetzt bildet demnach die orientalische Kirche nicht mehr eine Einheit, sondern vielmehr zehn durch ein sehr loses Band konföderierte Kirchen.
Es ist bekannt, wie völlig verdorben und depreviert der orientalische Clerus in seiner Totalität ist. Unter den Mönchen (z.B. des Berges Athos) mögen noch hin und wieder Reste traditioneller Wissenschaft existieren, in der Totalität ist Mönchtum und Weltclerus tief verfallen, roh, unsittlich, ungebildet. Die Simonie herrscht ohne Scheu durch alle Klöster. Er ist demnach auch gar nicht fähig dem von allen Seiten eindringenden westeuropäischen Wissen einen geistigen Widerstand entgegen setzen zu können. Die Bojaren der Moldau und Wallachei lassen ihre Söhne in Paris erziehen oder lassen von dort Gouverneure und Gouvernanten kommen. Die Serben schicken ihre Kinder meist nach Wien. Im Königreich Griechenland sind einige nach deutschen Mustern eingerichtete Schulanstalten, und wer das Vermögen hat, schickt seine Kinder nach Frankreich oder dem protestantischen Deutschland. Überall saugen die jungen Leute nicht blos die modernen politischen, sondern auch die sogenannten freisinnigen nationalistischen religiösen Prinzipien ein, und verbreiten sie in ihren Familien. Die protestantische Mission, insbesondere die englische und nordamerikanische sind ungemein thätig, namentlich in Griechenland und der Levante. Man kann wohl behaupten, daß die Mehrzahl aller nach westeuropäischer Weise gebildeten Leute durchaus rationalistisch, protestantischen religiösen Grundsätze folgen, den Dogmen ihrer orientalischen Kirche ganz entfremdet sind, ihren Clerus tief verachten und nur am Äußern ihrer Kirche als etwas Nationalem festhalten.

Ich habe hier nur oberflächliche Andeutungen über die Lage und Stellung der sogenannten anatolischen oder konstantinopolitanischen Kirche in ihrem ehemaligen Umfange, wie sie im gegenwärtigen Augenblicke sich uns darstellt gegeben. Ich gehe nunmehr zur Betrachtung desjenigen Theils der orientalischen Kirche über, den die gegenwärtige Denkschrift als den bei weitem wichtigsten ganz besonders ins Auge fassen soll. Während bei der anatolischen Kirche nur gesammelte und sonst zugekommene Notizen mein Urtheil gebildet haben, kenne ich diesen Theil der orientalischen Kirche aus eigenen Auffassungen und Wahrnehmungen und besondre Studien. Es ist das die Betrachtung über die gegenwärtige Stellung und Lage der russischen Kirche und Lage der russischen Kirche, natürlich nur im Allgemeinen und in großen Zügen, da eine Darstellung im Einzelnen den Raum einer Denkschrift weit übersteigen würde.
Die russische Kirche ist der bei weitem präponderirende Theil der ganzen orientalischen Kirche von altgriechischem Ritus. Mehr als 3/4 der Bekenner der orientalischen Kirche gehören der national-russischen Kirche an. Ihre innere Organisation ist die bei weitem ausgebildetste, auch fehlt es ihr keineswegs gänzlich an wissenschaftlichen Bestrebungen, wie dies bei der anatolischen Kirche der Fall. Die russische Kirche ist eine völlig ausgebildete Staatskirche, beschränkt auf den russischen Staat. Sie hat in dieser Beziehung den Charakter der Katholizität verloren. Wenn einige schwärmerische Slawomanen von einer russo-slawischen Weltmonarchie träumen, wozu denn auch eine russische Weltkirche gehört, die alle übrigen, natürlich auch die römische in sich aufnehmen soll, so ist doch von solchen Eroberungsgelüsten in der russischen Kirche auch nicht eine Spur vorhanden. In dieser Beziehung ist alles todt, es existiert keine Spur von Missionseifer in ihr. Nur der Staat hat, insofern es in seinem Interesse lag, eine Anzahl russischer Kleriker aufgefordert, mit Aussicht auf Beförderungen, Belohnungen, Orden etc. mit unter sogar sie gezwungen, als Missionar innerhalb der Grenzen des Reichs sich zu gerieren. Die Erfolge sind sehr schwach gewesen. doch haben sich aus den sibirischen Völkerschaften eine Anzahl Individuen taufen lassen, man sagt, weil ihnen Belohnung versprochen! Das kleine Völkchen der finnischen Mordwinen ganz umgeben von Russen hat nach und nach die Lebensart, Tracht, Sitte und Sprache der Russen angenommen und seit 300 Jahren etwa denn auch die Taufe, worauf ihnen Kirchen und Popen verliehen worden. Vor 15 Jahren hat ein russischer Bischof in Riga angefangen, die protestantischen Letten und Esten, welche ihren deutschen Gutsherren wegen mancherlei früheren Druckes herzlich gram sind, zu bearbeiten, um sie zur russischen Kirche überzuführen. Er ließ ihnen durch seine Emissäre versprechen, sie sollten in den kaiserlichen Dominien auf abgabefreies Land angesiedelt werden. Es gelang ihm mit einer großen Anzahl (80.000). Allein das Versprechen wurde ihnen nicht gehalten, und nun hörten sogleich die ferneren Bekehrungen auf. Die eben Bekehrten wollten nun auch wieder abfallen, allein dies wurde vom Gesetz bei Strafe der Versetzung nach Sibirien verboten.
An dem Abfalle der mit Rom unirten Ruthenen in Podolien und Litthauen vom römischen Stuhle und ihrer Unterwerfung unter die Synode in Petersburg ist die russische Kirche als solche völlig unschuldig. Es ist eine rein politische Aktion, lediglich durch das Gouvernement von den Zeiten Katharinas II an eingeleitet und beharrlich durchgeführt. Man hat von den Unirten keineswegs einen Übertritt zu dem russischen Glaubensbekenntnis gefordert, man hat nicht einmal das Aufgeben der florentinischen Artikel von ihnen verlangt, man hat sich vielmehr lediglich begnügt, das Land mit dem römischen Stuhl gewaltsam abzulösen und sie dem Synod faktisch zu unterwerfen. Nur die Seminarien hat man russisch eingerichtet in denselben den russischen Katechismus (Mogilas) nur russische Lehrbücher der Theologie eingeführt etc. Man vermeidet es auf das Sorgsamste die Artikel des Concilii florentini zu berühren und hofft diese dann wohl allmälig zu Vergessenheit zu bringen. Obgleich die russische Kirche Constantinopel als die Mutter ansah, von dort aus auch vielfach Metropoliten, Bischöfe und Clerus erhielt, so blieb sie doch viel länger mit Rom in bald festerer bald loserer Verbindung als Constantinopel selbst. Erst während der Invasion der Mongolen schliefen diese Relationen allmälig gänzlich ein. So lange die Verbindung mit Rom bestand, stand die russische Kirche mit den übrigen Theilen der katholischen Kirche so ziemlich im gleichen geistigen Niveau und es herrschte damals ein nicht unbedeutendes geistiges und wissenschaftliches Leben in ihr, wovon z.B. die Chronik des Mönches Nestor im Höhlenkloster von Kieff ein rühmliches Zeichen gibt.
In der Mongolenzeit sank Kirche und Volk in tiefe Barbarei hinab. Rußland war in viele Theilfürstenthümer gespalten unter einem nominellen Großfürsten. Die politischen und staatlichen Verhältnisse mit Westeuropa waren gänzlich abgeschnitten. Die nationale Kirche vegetierte in einem kümmerlichen Leben, das Mönchthum versank in tiefe Unwissenheit, kaum daß man noch die lithurgischen Bücher abzuschreiben vermochte. Das nationale Mönchthum vermochte nicht ein nur einigermaßen würdiges nationales Episkopat aus seinem Schosse zu entwickeln und zu gewähren[?]. Rußland erhielt seine Bischöfe lediglich von Constantinopel geschickt, jede Beziehung und Verbindung mit Rom erlosch nunmehr vollständig.
Endlich wurde das Mongolenjoch abgeworfen, aber die russische Kirche gewann nichts dabei. Sie kam aus der Abhängigkeit des Stuhls von Constantinopel in die sich allmälig entwickelnde Sklaverei des drückendsten Cäsaropapismus der Czaren von Moskau, die nach und nach die Einheit von Rußland hergestellt hatten. Die Czaren hielten anfangs noch die Verbindung mit dem Patriarchen von Constantinopel fest. Die langjährigen Verbindungen, die alte Sympathie des Clerus und Volkes zu dieser Mutterkirche ließen sich nicht so leicht zerreißen. Aber der Patriarchenstuhl in Constantinopel war damals schon kirchlich und moralisch tief gesunken. Der Bruch mit Rom hatte ihm jeden politischen, jeden tieferen kirchlichen Halt, jede Freiheit der äußern und der geistigen Bewegung geraubt. Das Patriarchat war längst als eine Handhabe in die weltliche byzantinische Staatshierarchie eingefügt. Die Patriarchen waren gefügige Knechte des Kaisers geworden, welche affektiv die Kirche despotisch beherrschten.
Diese erniedrigende, Recht- und wertlose Stellung gewährte und gestattete dann dem Patriarchen nun auch dem Czaren von Moskau gegenüber eben keine hohe kirchliche Haltung. Er ließ sich alles von ihm gefallen, und befolgte seine scheinbar als Bittgesuch vorgetragenen Befehle unbedingt, um nur den äußern Schein der patriarchalen Oberherrschaft zu retten. Aber auch dieser wurde den Czaren allmälig lästig. Längst hatten die Czaren es sich nicht mehr gefallen lassen, daß die Patriarchen Griechen, Bulgaren etc. als Bischöfe und Metropoliten nach Rußland sendete. Der Czar setzte vielmehr nach Willkür Einheimische, die in der Regel noch gefügiger als die Fremden waren als Bischöfe ein und ab, kaum wurde noch zum Schein die Bestätigung von Constantinopel nachgesucht. Hin und wieder kamen aber doch noch Appellationen nach Constantinopel vor und wenn sie auch weiter keine Folge hatten, als etwa demüthige Vorstellungen und Bitten des Patriarchen beim Czaren, so fanden diese doch solche, wenn auch entfernte Kenntnisnahmen der Patriarchen von russischen innern Kirchenangelegenheiten unbequem und setzten im 16ten sec. ohneweiters ein inländisches nationales Patriarchat in Moskau ein, welches bald völlig unabhängig von Constantinopel ward. Sie erzwangen die Einwilligung und Anerkennung der vier orientalischen Patriarchen wie man behauptet durch klingende Überzeugungsmittel und durch die Drohung, man werde sich sonst mit Rom einigen.
Das nationale Patriarchat entsprach aber dennoch nicht ganz den Wünschen der Czaren. Selbst in untergeordneten Kreisen hat jedes Streben, jede Erlangung einer Einheit mehr oder weniger segensreiche Folgen von Rußland, trotzdem daß die Patriarchen von den Czaren nach willkürlicher Wahl eingesetzt wurden, waren in der Mehrzahl ehrenwerthe und ein Paar: Romanoff und Nicon sogar würdige kirchliche Gestalten. Sie bestrebten sich nach Kräften, die Kirche und den Clerus innerlich zu heben, ja sie wagten es zuweilen sogar mit Lebensgefahr den Czaren mahnend gegenüber zu treten. Die äußerlich glänzendste Zeit des russischen Patriarchats war, als Romanoff Patriarch und sein eigener Sohn Czar war, die inhaltsreichste und würdigste aber als Nicon den Patriarchenstuhl inne hatte, ein Mann von großem, edlem, kirchlichem Charakter. Sein Kampf um das Recht der Kirche, in passiver, demüthiger aber doch fester Haltung, mit den Czaren und der weltlichen Macht geführt, sein Sturz und sein Exil, herbeigeführt durch die jämmerliche Niederträchtigkeit der 4 orientalischen Patriarchen, die die Sache der Kirche gerade im entscheidenden Augenblicke verriethen, und wie man weiß von Czaren bestochen dem Nicon Unrecht gaben, sind ungemein lehrreich für die Beurtheilung des russischen Nationalcharakters und die Schwäche aber auch den Keim der innern Kraft und Würde der russischen Kirche, die wie ich glaube, dereinst berufen sein wird, eine hohe Stellung und Mission innerhalb der katholischen Kirche unter den centrum unitatis einzunehmen.
Mit Nicon war die Kraft des Patriarchats in Russland gebrochen. Seine Nachfolger waren schwache fügsame Männer. Es sank in der öffentlichen Meinung und Achtung des Volkes, weil die Träger desselben nicht inponierten. Eigentlich aber hat es nie feste kirchliche Wurzel in den Herzen des Volkes geschlagen. Es war eine willkürliche von der weltlichen Macht eingesetzte fremde Pflanze. In den Volksgefühlen und Traditionen lebte nur der ferne Patriarch von Zaarigorod (Constantinopel) als wahres Haupt der russischen Kirche. So konnte demnach Peter I das Patriarchat ohne Gefahr und bei ganz gleichgültiger Haltung des Volkes dieser Veränderung gegenüber abschaffen, und den noch jetzt vorhandenen dirigierenden Synod einsetzen, nachdem er sich zuvor die Einwilligung um Anerkennung der 4 Rußland gegenüber stets fügsamen Patriarchen des Orients verschafft hatte. Von da an bis in die neueste Zeit herrschte in Rußland der ausgebildetste und unumschränkteste Cäsaropapismus, wie er selbst in Byzanz nie geherrscht hat. Der dirigirende Synod wird lediglich jeweilig und willkürlich zusammengesetzt. Der Kaiser ernennt dessen Mitglieder aus den vorhandenen Bischöfen, aber nicht einmal lebenslänglich, sondern nur für so lange es ihm beliebt. Macht einer eine ernste Opposition, so wird er zur nächsten Sitzung nicht mehr einberufen, sondern statt seiner ein Anderer, Fügsamerer. Der Kaiser präsidiert und entscheidet selbst oder durch einen von ihm Ernannten. Während der Regierung des Kaisers Nikolaus war dies lange Jahre hindurch der Husarengeneral Protassoff.
Peter I. ließ sich die Ausbildung des Clerus einigermaßen angelegen sein, er errichtete meist in jeder Exarchie ein Seminarium, und gab diesen eine Einrichtung, die unter Catharina II. und Nicolaus I. zwar im Einzelnen modifiziert wurde, jedoch im Ganzen noch besteht. Die Schuleinrichtungen sind im Ganzen nach dem Muster der Jesuitenschulen und deutscher Seminarien gebildet, die Lehrbücher aller weltlichen Scienzen sind fast sämtlich Übersetzungen deutscher, meist protestantischer Bücher. Unter Kaiser Nikolaus wurden fast jährlich eine Anzahl fähiger Popensöhne nach Deutschland auf protestantische Universitäten zum Studieren geschickt, um sich als Lehrer für die Universitäten und Seminarien auszubilden. Dieselben haben in Berlin, Halle etc. nicht blos Philosophie bei Hegel und seinen Schülern gehört, sondern auch protestantische theologische Collegien frequentiert. Ich war sehr verwundert selbst auf den größten russischen geistlichen Akademien und Seminarien offen Hegelsche Philosophie und zwar der extremsten verhüllt-pantheistischen Sorte tradieren zu hören. Der etwas gebildetere und gelehrte Clerus namentlich die Bischöfe und der höhere Mönchsklerus verstehen fast alle deutsch, wenn sie es auch nicht sprechen, sie kennen fast alle die deutsche besonders die protestantische theologische Litteratur, selten etwas von katholischer Litteratur, verachten, wenn sie französisch verstehen in der Regel die französische Theologie; nennen Bossuet und Fenelon Rhetoren. Auf den Studientischen der Bischöfe fand ich in der Regel die Werke von Schleiermacher, Ammon, Neander etc. Ich fand in diesen höheren klerikalen Kreisen durchschnittlich protestantische Sympathien. In vertrauten Gesprächen aber enthüllten sich mir so ziemlich vollständig protestantisch-theologische Doktrinen. Ein hochstehender Geistlicher, der nicht wußte, daß ich Katholik war, (im Ausland gilt jeder deutsche Reisende als Protestant) antwortete, als ich meine Meinung äußerte, es scheine mir, als ob zwischen den russischen und römischen Prinzipaldogmen nur wenige Differenzen seien. "Wir haben mit Rom in der Theologie und dem Gottesdienst sehr wenig Gemeinsames, nur Formen, nur Zeremonien sind ähnlich." "Über das Meßopfer? die Transsubstantiation?" "Das ist ein Ceremoniale, eine Liturgie, die Meinung über die Bedeutung steht nicht dogmatisch fest, in älteren Zeiten haben allerdings manche an eine Transsubstantiation geglaubt, gegenwärtig nähern sich die meisten der theologischen Meinung Luthers, daß man beim Empfang der Communion auch Christus leiblich empfange. Viele von uns glauben auch nur an einen geistigen Empfang, wie die Reformierten. Aber wir halten streng fest an allen auch den kleinsten Ceremonien und allem liturgischen, es ist ehrwürdig seines Alters halber, es ist aber zugleich national und ganz verwachsen in den Sitten und dem Charakter des russischen Volkes. Wir werden uns hüten je hieran zu rühren, etwas abzuschaffen, oder neues einzuführen." Selbst der jetzige Metropolit Philaret von Moskau hat vor länger als 30 Jahren einen Katechismus2 herausgegeben, der wenn auch etwas verschleiert, durch und durch protestantische Prinzipien enthält. Er war denn auch deshalb vom Synod verboten und unterdrückt. Seitdem haben sich die Überzeugungen von Philareth geändert, er ist gegenwärtig nebst dem Metropoliten von Kiew die Stütze der Orthodoxie in Rußland geworden, und sein neuerer Katechismus ist so orthodox, daß selbst vom katholischen Standpunkte aus kaum eine Häresie (mit Ausnahme der Definition über die Kirche, in welcher der Pabst übergangen ist) nachgewiesen werden möchte. Innerlich ist demnach der Clerus der russischen Kirche theologisch tief in sich gespalten. Der orthodoxe Theil fühlt dabei recht gut, daß jeder Bischof isoliert für sich steht, daß der Synod gar keine kanonische Berechtigung hat, und daß nur im Cäsaropapismus eine despotische Einheit, aber freilich eine unberechtigte, faktisch besteht.
Die russische Kirche ist jetzt ganz arm. Sie hängt in Bezug auf ihre Subsistenz, Unterhaltung des Gottesdienstes, Gehälter des Clerus und der Kirchendiener lediglich vom Staate ab. Die Bischöfe haben einen sehr kärglichen Gehalt, sie genießen aber, da sie zugleich Vorsteher der Hauptklöster sind, noch allerhand Emolumente und Einkünfte. In der Regel lassen sie auch Katechismen und liturgische Bücher drucken, welche die Popen für theures Geld kaufen müssen. Vielen wirft man vor, daß ihre Hände bei Besetzung der Kirchenämter nicht rein bleiben. Früher war die Kirche sehr reich, insbesondere die Klöster. Das berühmte Kloster Troitze bei Moscau besaß über 100tausend Leibeigene, was jetzt etwa ein Kapitalvermögen von 80.000.000 fl repräsentieren würde. Peter I. setzte alles Kirchengut unter weltliche Administration, und ließ dem Clerus Sustentationen auszahlen, Catharina II. konfiszierte alles Kirchengut zu Gunsten des Staates. Die wenigen Hauptklöster, namentlich die in welchen die Bischöfe residieren, erhalten vom Staate einige Subsistenzmittel, die übrigen Mönche und Nonnen leben von Handarbeit und Almosen. Eben in die vornehmen Klöster treten aber die meisten Individuen nur ein (wie aus gleicher Absicht in die Staatsanstalten) nämlich um eine geistliche Carriere bis zum Bischof hinauf zu machen. Die Weltgeistlichkeit, die Popen oder Pfarrer sind neuerdings durch den Kaiser Nicolaus wenn auch nicht reichlich doch mit festem Einkommen fundiert. Sie haben in den Gemeinden eine Landdotation und bestimmte feste Geldeinnahmen zugetheilt erhalten.
Die oben bezeichnete Theilung und Spaltung im Clerus in einen orthodoxen und einen protestantisierenden umfasst nur die höhere gebildetere Geistlichkeit. Die Weltgeistlichkeit auf dem Lande ist roh, ungebildet und unwissend, aber traditionell orthodox, ebenso die eigentlichen, wirklichen Mönche, die aus frommem Beruf in die Klöster eingetreten, die höheren weltlichen Würden, Adel, Beamte, Militär haben mehr oder weniger eine moderne französische Bildung erhalten. Sie sind zum Theil sehr frivol, depraviert, wenig religiös, aber festhaltend an dem Äußern der Kirche als etwas unantastbarem Nationalem.
Die jüngere Generation zeichnet sich dagegen durch ein fanatisches Festhalten und Vertheidigen der orthodoxen Kirche als dem Palladium des russischen Volkes aus.
Das gemeine russische Volk ist tief religiös, tief gläubig, jedoch ohne Erkenntnis. Es weiß von den Lehren der Kirche wenig aber lebt in ihr mit der tiefsten Hingebung.
Von jener Spaltung im höheren Klerus in einen orthodoxen und einen protestantisierenden Theil weiß und erfährt das Volk nichts. Der Clerus ist dem Volke gegenüber nur der Träger der Sakramente und des gottesdienstlichen Ceremoniale. Belehrung, Katechisation ist fast unbekannt. In der Regel belehren die Eltern ihre Kinder über das Verhalten im Leben und in den Kirchen, das Bezeichnen mit dem Kreuze, gepredigt wird nur ausnahmsweise in den Kathedralen, sonst nirgends, ja es ist den Popen verboten und wird nur ausnahmsweise gestattet. Von Seelsorge ist nirgends die Rede. Die Ohrenbeichte hat sich in eine allgemeine Confession der Sünden der Gemeinde aufgelöst, nur wenn ein Beichtkind es besonders und ausnahmsweise fordert, hört der Pope ihm die Beicht.
Es ist aber eine andere Spaltung in der Kirche vorhanden, die effektiv unendlich bedeutender ist als jene theologische Spaltung in dem höheren Clerus. Es ist dies der essentielle[?] Abfall der sogenannten Altgläubigen (Staroverzi) von der orthodoxen Kirche. In der Mongolenzeit, wo Rußland in eine Menge Fürstenthümer getheilt war, waren alle kirchlichen Zustände tief gesunken, es begann die größte Unwissenheit und Barbarei zu herrschen. Kaum konnten die Mönche noch schreiben, in die liturgischen Bücher schlichen sich eine Menge von verschiedenen Lesarten ein, verfälschte Worte, die zum Theil sinnlos, z.Th. Irrthümer hervorbrachten und befestigten.
In den einzelnen Fürstenthümern wurden solche Abschriften mit ihren Irrthümern feststehend, auch in den Ceremonien bildeten sich Abweichungen. Als nun die Großfürsten von Moskau allmälig die Theilfürsten entthronten, und die Einheit Rußlands wiederhergestellt, als dann durch Errichtung des Patriarchats auch Kraft und Einheit ins Kirchenregiment gekommen, da begannen die Patriarchen alles zu revidieren und zu berichtigen. Patriarch Nicon vollendete das Werk 1662–1666. Er sendete gelehrte Mönche nach den Klöstern des Berges Athos und ließ die ältesten wichtigen Handschriften kopieren, ließ daraus ein alles umfassendes großes lithurgisches Werk redigiren. Legte es den vier orientalischen Patriarchen zur Approbation vor und promulgierte dessen Einführung auf einer Nationalsynode.
Im Allgemeinen wurde die neue Ordnung der Dinge ziemlich leicht eingeführt, allein hin und wieder fanden sich fanatische Priester, die sich jeder Abweichung vom Hergebrachten, jeder Verbesserung der Irrthümer, die sie natürlich nur eine willkürliche Neuerung nannten, widersetzten. Ihre Gemeinden folgten ihnen aus tiefem traditionell religiösem Sinn. Anfangs schien die Sache unbedeutend, aber allmälig bildete sich ein vollständiger Abfall von der orthodoxen Staatskirche aus. Sogar einige Bischöfe scheinen sich auf die Seite der abgefallenen geschlagen zu haben, wenigsten finden wir, daß sie im 17. und 18. sec. Bischöfe gehabt haben, die ihnen Popen geweiht. Diese Kirchenpartei nannte sich selbst Staroverzi (Altgläubige) vom Gouvernement und der Staatskirche wurden sie Roskolniki (Ketzer) genannt.
In Bezug auf die Realitäten der Sache selbst hatten der Patriarch und die Staatskirche unstreitig recht, nur Unwissenheit und hartnäckiger Eigensinn scheint die Opposition hervorgerufen zu haben. Fasst man aber die Sache von einem höheren Standpunkte und zwar im gegenwärtigen Augenblicke auf, so kann man nicht umhin den Staroverzen im Prinzip recht zu geben.
Sie argumentieren und sprechen in folgender Art: "Wir haben unsere Gebräuche und Ceremonien von unseren Eltern ererbt, diese wieder von den ihrigen und so weiter bis zu den Aposteln hinauf. Ihr von der orthodoxen Kirche behauptet, das seien Irrthümer und wollt das mit allerhand alten Schriften und Zeugnissen fremder Klöster in Griechenland etc. beweisen. Ihr sagt ferner, das Meiste von dem, worin wir von euch abweichen sei ohne Bedeutung und keine Hauptsache, ob man den Bart abscheren oder wachsen lasse sei gleichgültig. Wir aber meinen, in religiösen Dingen ist nichts gleichgültig und unbedeutend, alles ist von den Aposteln und der alten Kirche angeordnet, ihnen soll man unbedingt gehorchen. Wir sollen den Aposteln und Heiligen in allen Dingen nacheifern, also auch im Äußern. Christus, die Apostel, alle Heiligen erscheinen auf den heiligen Bildern mit Bärten. Christus sagt: "Ich bin nicht gekommen um das Gesetz des Moises aufzuheben, sondern um es zu erfüllen. Im Gesetz Mosis aber steht ausdrücklich, daß man den Bart nicht abschneiden dürfe. Wir halten es also für Sünde es zu thun, ihr aber erklärt, es sei keine Sünde. Ist ein solcher verschiedener Ausspruch unbedeutend und ohne Folgen? Wer von uns Recht hat, wer entscheidet es? Ihr seid ja Parthei, also könnt ihr es nicht! Aber auch die sämmtlichen Patriarchen des Orients können es nicht; Zwischen uns entscheidet nur ein allgemeines Conzilium, und das kann nur gehalten werden, wenn auch der Papst von Rom und die abendländische Kirche hinzutritt. Bis dahin müssen wir Euch für Neuerer und Verderber des alten traditionellen Ritus halten. Der deutsche Luther hat auch einst behauptet, er wolle nur das älteste Christenthum der Aposteln wiederherstellen, und ihn haltet ihr ja doch auch für einen Ketzer."
Demnach müßte es ungemein auffallen, und man frägt mit Recht, wie ist es möglich, daß sich eine Spaltung fast zwei Jahrhunderte hindurch erhalten hat, und zwar mit stetem Zunehmen, die durch keine Verschiedenheit in den Dogmen, durch keine theologische Gegensätze begründet ist, sondern lediglich auf ursprünglich unwesentlichen Abweichungen in einigen Ceremonien und Gebräuchen beruht? Und wenn es auch nicht erklärlich ist, daß die, bei welchen jene kleinen Unterschiede seit Generationen bestehen, sie eifersüchtig und hartnäckig festhalten und bewahren, wie kommt es, daß noch jetzt vor unseren Augen täglich eine große Zahl russischer Bauern und Städter von der orthodoxen Kirche abfallen, und sich jenen Schismatikern mit ihren kleinen Cerimonienunterschieden zugesellen, ungeachtet sie ungemein einbüßen, und deshalb auf alle Weise verfolgt werden?
Dieses Faktum des Fortbestehens und der Zunahme hat eine tiefere nationale und politische Grundlage im Hintergrund: Jene religiöse und kirchliche Spaltung ist wirklich zugleich eine mächtige nationale und politische Spaltung. Die religiösen Zeremonialunterschiede namentlich das Bezeichnen mit dem heiligen Kreuze, welches die Staroverzen etwas anders machen als die kirchlich orthodoxen ist zugleich die Fahne und das Erkennungszeichen jener sich seit mehr als anderthalb Jahrhunderten entwickelnden und stets mächtiger werdenden Opposition des nationalen Altrussenthums, gegen das Eindringen der Ideen, der Kultur, der Einrichtungen, Organisationen und Institute von Westeuropa.
Rußland hat keine allmälig von einer aus der Nationalität hervorgewachsene Entwicklung und Bildung gehabt. Seine Zaren und späteren Kaiser haben, um Rußland rasch auf einen höheren politischen Standpunkt zu heben, gesucht, die westeuropäische Bildung, die Einrichtungen im Staatsleben, die Formation der Kriegsmacht, das Beamtenwesen überall rasch, gewaltsam einzuführen und nachzuahmen. Nirgends hat man die alten nationalen Sitten und Rechtsgewohnheiten gepflegt. Daß hiedurch Rußland das geworden, was es geworden, ist unbestritten. Seine europäische Machtstellung ist hiedurch begründet. Allein es hat sich auch dadurch bei dem gemeinen Russen ein tiefer Widerwillen ja Haß gegen alles Fremde und die Fremde (die Niemtock, worunter meist die herrschende Deutschen verstanden werden) entwickelt.
Die Depravation der höheren Stände, des Adels, der Beamten der Offiziere ist sprichwörtlich geworden. Sie alle üben einen großen materiellen Druck auf den gemeinen Russen, der bis jetzt nur noch einen passiven Widerstand leistet. Allein, wehe Rußland, wenn sich dort eine Revolution ausbilden sollte! In den höheren Ständen sind die Lehren der Revolution vom vulgären Liberalismus bis zum Communismus und Socialismus tief, freilich meist unverdaut, eingedrungen. Wühlereien und Werbungen aller Art werden seit lange getrieben. Es geschah dies schon zu Alexander I. Zeiten, die eiserne Hand des Kaisers Nicolaus hielt dann Alles nieder, jetzt wo Rußland auch vom Gouvernement selbst in die Epoche neuer Entwicklungen und Evolutionen eingeführt wird, regen sich auch dort alle revolutionären Partheien und Elemente. Die Ereignisse, welche sich in Rußland jetzt entwickeln sind in ihren Folgen nicht vorauszusehen.
Die größte Gefahr, welche in Rußland die Grundlage ist, auf welcher jede Opposition, jede Revolution sich basieren wird, ist das halb religiös, halb politisch-oppositionelle Starowerzenthum. Das beweisen Fakten der Geschichte und Zahlen. Seit fast 200 Jahren haben alle revolutionären Bewegungen das Staroverzenthum zum Hintergrund gehabt, so insbesondere die mächtigste, den Strelitzenaufstand unter Peter I und den Aufstand von Pugatschieff unter Catharina II. Was die Zahlenverhältnisse betrifft, so gebe ich folgende, die größte Aufmerksamkeit und sehr ernstes Nachdenken erweckende: Zur Zeit Peter I. rechnete man 600.000 bis 800.000 Staroverzen. Als ich 1843–1844 in Rußland war, rechnete man fünf bis 6 Millionen. Gegenwärtig geben offizielle Quellen an, daß 15 Millionen von der orthodoxen Kirche abtrünnige Roskolniki (Staroverzen) existieren, mit anderen Worten, daß fast 1/3 der der russischen Kirche Angehörigen von derselben abgefallen sind!
Der Monarch des russischen Staates kann gegen seine andersgläubigen Unterthanen Toleranz und religiösen Schutz üben. Er vermag dies den Katholiken, Protestanten, Juden und Mohamedanern gegenüber, anders aber ist seine Stellung den Staroverzen gegenüber. Er ist das Oberhaupt der orthodoxen Kirche, die Staroverzen aber bilden nicht etwa eine andere Confession, sie gehören zur orthodoxen Kirche, sie bekennen dies selbst. Sie sind ihr aber ungehorsam und abtrünnig, weil sie behaupten, die Träger der Kirche hatten sich häretische Irrthümer zu Schulden kommen lassen. Das kann das Oberhaupt dieser Kirche weder zugestehen noch dulden, er ist verpflichtet, die Abtrünnigen zu strafen, sie entweder mit Güte oder mit Gewalt zu Kirche zu bringen, oder sie aus dem Lande zu jagen. Die russischen Monarchen haben seit 200 Jahren die Staroverzen bald verfolgt, bald ignoriert, bald mit Güte und Nachgiebigkeit zur Kirche zurückzuführen gesucht. Alles völlig ohne Erfolg! Ihre Zahl hat stets zugenommen. Kaiser Nikolaus hat mit eiserner Strenge gegen sie verfahren. Das russische Gesetzbuch besagt, daß in Rußland nur der bürgerliche Rechte habe, der in der orthodoxen Kirche oder in den tolerierten Kirchen getauft und eventuell getraut sei. Da nun die Staroverzen sich hartnäckig weigern, sich in der Kirche trauen und ihre Kinder daselbst taufen zu lassen, so ist die Folge ipso jure, daß den bürgerlichen Gesetzen gegenüber ihre Ehen nur Konkubinate, ihre Kinder Bastarde sind, also nicht erben können. Und da ihre Verwandten, Geschwister et. ebenfalls nicht in einem kirchlich anerkannten Verwandtschaftsgrade stehen, so ist jede Hinterlassenschaft eines Staroverzen herrenloses dem Staate verfallenes Gut. Die Sache ist in unzähligen Fällen zur Ausführung gekommen, habgierige und diebische Beamte haben alle Fälle ausgesucht und benützt zur Confiscation, natürlich um 3/4 zu stehlen und 1/4 in die Staatskasse abzuliefern.
Dem Kaiser Nikolaus war es gelungen, die Staroverzen von allem Clerus abzuschneiden. In früheren Zeiten hatten sie noch Bischöfe, die in den Wäldern versteckt lebten. Als diese ausgestorben oder aufgegriffen, und sie ohne geweihte Bischöfe waren, behalfen sie sich mit sogenannten Läuflingen d.h. geweihten Priestern der russisch-orthodoxen Kirche, die zu ihnen übertraten, weil sie reichlich bezahlten. Kaiser Nikolaus wusste dies durch seine Polizei zu verhindern.
Jetzt vor 3 Jahren ist es den Staroverzen aber gelungen, in der Bukowina einen slawonischen Bischof zu finden, der gegen eine große Summe Geldes ihnen einen Bischof nach ihrem Ritus geweiht hat. Dieser hat nun ferner eine große Zahl Popen und wie ich hörte auch schon mehrere Bischöfe geweiht. In diesem Augenblicke stehen demnach in Rußland zwei vollständig organisierte Kirchen neben einander, die sich beide die orthodoxe nennen, und sich gegenseitig anfeinden!
Das Gouvernement ist gegenwärtig in Petersburg in der allergrößten Verlegenheit. Daß der gegenwärtige Zustand, namentlich in Bezug auf die Güterkonfiskation völlig unhaltbar ist, sieht jeder ein. Soll man die Gesetze ändern? und wie? Soll man die Staroverzen förmlich anerkennen, ihre klerikale Organisation offiziell gestatten? Ist das möglich, so lange der Kaiser das Oberhaupt der orthodoxen Kirche ist. Ist das nicht ein offener Verrath an derselben? Es ist schon in Petersburg vorgeschlagen das Institut der Civilehe für die Staroverzen einzuführen. Das wäre der offene Ruin der orthodoxen Kirche!
Es ist aber auch wirklich schon vor einigen Monaten in Petersburg und zwar in sehr hohen Zirkeln die Frage aufgeworfen [worden], ob nicht jetzt der Zeitpunkt gekommen und ob es nicht am gerathensten sei, daß der Kaiser eine andere loyale Stellung der orthodoxen Kirche gegenüber einnehme, ob er nicht etwa definitiv erklären solle, er gehöre zwar der Kirche an, sei aber nicht ihr Haupt. Diese solle vielmehr frei und unabhängig sich selbt regieren und bewegen dürfen, indem er nur dann seine Pflicht als Monarch des mächtigsten von 100 Völkern bewohnten Reiches allen seinen Unterthanen, (also auch den Staroverzen) Schutz und Toleranz in Bezug auf ihre religiösen Anschauungen zu gewähren, unbeengt nachkommen könne. Das sei ja auch die Stellung der übrigen Monarchen Europas und das bestehende russische Gesetzbuch nenne selbst den Kaiser nur den Vertheidiger und Protector der orthodoxen Kirche, wenn er auch faktisch bisher als deren Haupt und Regierer sich gerirt habe. Wenn diese Frage, die sich mit jedem Augenblick mächtiger aufdrängt erst ernstlich diskutiert wird so wird man zunächst fragen müssen, wer die Leitung und Regierung der orthodoxen Kirche übernehmen soll. Sie wird befreit vom Cäsaropapismus und der weltlichen Regierung, aber sie bedarf einer einheitlichen Leitung, also eines inländischen unabhängigen Patriarchen, oder der Unterwerfung unter einen fremden, von dem die Wahl nur unter Constantinopel oder Rom sein könnte.
Ein inländischer Patriarch? Dies ist der Wunsch des ganzen sogenannten Jungrusslands! Aber kann ihn das Kaiserthum und Gouvernement ertragen? Peter I. sprach in dem Ukas über die Abschaffung des Patriarchats 1721 aus, daß ein Patriarch die Einheit und Kraft des Kaiserthums breche, ganz insbesondere in der öffentlichen Meinung, daß eine Person, der dem Kaiser selbst die höchste Ehrfurcht zu bezeigen schuldig sei, im Auge des Volkes nothwendig höher als der Kaiser selbst stehen würde und damals handelte es sich doch nur um einen Patriarchen, den der Kaiser willkürlich einsetzte, den er ebenso wieder absetzen konnte, wie dies auch mehrmals geschehen. Aber ein unabhängiger, gewählter nicht vom Kaiser eingesetzter Patriarch im Innern von Rußland selbst? Nimmermehr kann sich der Kaiser das gefallen lassen!
Nun etwa Constantinopel? Die Sympathie des Volkes wäre wohl für ihn! Aber soll sich Rußland in Bezug auf seine Kirche dem Unterthan eines fremden, dazu mohammedanischen Monarchen unterwerfen, einem Patriarchen, der seine Stelle vom Sultan erkauft. Und nun gerade im gegenwärtigen Augenblicke, wo das Patriarchat Constantinopel im sichtbaren äußern Verfalle, wo eine Provinz nach der andern von ihm abfällt und sich kirchlich selbständig konstituiert?
Also Rom? der Gedanke hat durchaus keine Sympathie im Clerus und Volke, allein eine gesunde Politik drängt diesen Gedanken dem Kaiser und Gouvernement wie von selbst und als den einzigen vernünftigen und angemessenen auf, und die Gewalt der Umstände bringt oft Sachen zu stande, von denen man kurz vorher sich schwerlich hätte träumen lassen.
Doch ich will mich auch vor allem Prophezeien hüten und mich keiner Art von Hoffnungen hingeben. Ich habe hier in einem kurzen Überblick die Verhältnisse der russischen Kirche dargestellt, wie sie sich in ihrer innern Organisation, in ihrem theologischen Verhalten, ihrer Stellung zum Kaiser, zum Gouvernement, zum Volke ausgebildet hat und gegenwärtig sich unseren aufmerksamen Augen darbietet.
Diesem offenbaren innern und äußern Verfalle, dieser immer mehr zunehmenden Zerstückelung und Vereinzelung der ganzen orientalischen und insbesondere russischen Kirche gegenüber, welche Stellung soll die römische Kirche nunmehr einnehmen, und welche Anstalten und Mittel ergreifen, um die disjecta membra dieser einst geliebten Schwester unter demselben Vater, diese einst so imponierenden, dann aber immer mehr verkümmerten Kirche mit sich wieder zu vereinigen, unter dem gemeinsamen centrum unitatis?
Unmittelbar positive Schritte kann meiner Meinung nach die katholische Kirche jetzt noch keineswegs zu Herbeiführung der Union thun, dafür ist die Zeit noch nicht reif. Vorläufig kann man sich hier begnügen mit dem, was der Heilige Vater selbst in seiner Mahnung und Aufforderung namentlich in der litteris ad Orientales vom 6. Januar 1848 ausgesprochen hat. Diese Ansprache voll Liebe, voll erhabenen Geistes muß die Richtung geben und die Atmosphäre bilden, in der alle Bestrebungen sich bewegen. Daß wir durch Angriffe, Disput, Gezänk nimmermehr zur Vereinigung kommen, hat eine 1000jährige Erfahrung gezeigt.
Die Bischöfe von Münster, Hildesheim und Paderborn haben in ihren Diözesen im Anfange dieses Jahres Gebetsvereine für die Union und die Unterwerfung der orientalischen Kirche unter den Papst gestiftet. Hoffentlich verbreiten sich diese Gebetsvereine über ganz Deutschland, und der Heilige Vater stattet sie mit Indulgenzen aus. Außer dem unermesslichen Werthe des gemeinsamen Gebetes selbst, zeigt es der orientalischen, insbesondere der russischen Kirche unsere tiefe Liebe und Sehnsucht, mit ihr wieder vereinigt zu sein. Ich habe einige Hoffnung, daß die russische Kirche daran Veranlassung nehmen wird, einen ähnlichen Gebetsverein in ihrem Schoße ebenfalls für eine künftige Union zu gründen. Geschieht dies, so würde das schon ein mächtiger Schritt für die künftige Union sein, wenn von beiden Seiten gleichmäßig für dieselbe gebetet wird. Ich glaube nicht, daß das russische Gouvernement sich dagegen erklären oder gar einschreiten wird. Umgekehrt es verliert nichts dadurch und könnte ein solches Verfahren sehr unscheinbar anbahnend sein für künftige Ereignisse mit Umständen, die im Hintergrunde der Zeiten drängend sich zu entwickeln scheinen, wie ich oben angedeutet. Daß sich in andern katholischen Ländern solche Gebetsvereine bilden möchten, wäre dann wohl sehr wünschenswert!
Es herrscht in Rußland eine große Verbitterung unter allen kirchlich gesinnten Leuten über die vielen Übertritte vornehmer Russen und Russinnen zur lateinisch-katholischen Kirche. Diese Erbitterung wäre sehr zu mildern, vielleicht ganz zu beseitigen, wenn man sich nur streng an die Kirchengesetze hält. Es ist verboten von der uniert-orientalischen zur lateinischen Kirche überzutreten. Von der schismatisch-orientalischen Kirche darf man eigentlich auch nur zur unierten übertreten (ich meine es bedarf sogar einer besonderen Erlaubnis des heiligen Vaters, daß solche schismatische Orientalen zur lateinischen Kirche übertreten dürfen). Geböte man nun ein für alle mal, daß alle schismatischen Slaven, die sich dem heiligen Stuhl unterwerfen wollen, lediglich den Unirten sich anschließen sollten, so würde ein solcher Übertritt in den Augen der Russen durchaus nicht als ein eigentlicher erscheinen: die Nationaleitelkeit der Russen würde nirgends verletzt, denn sie betreffen nicht nur die Russinen (oder Ruthenen) als einen nationalrussischen Stamm, sondern auch die unirte russische (ruthenische) Kirche der orthodox-russischen; der Synod in Petersburg hat ja offiziell erklärt, daß die Kirche der Russinen mit der russischen Kirche auf derselben Glaubensbasis stünde. Die von Rom abgefallenen oder gewaltsam abgetrennten Ruthenen, die gezwungen wurden, sich dem Synod von Petersburg zu unterwerfen, haben daher bei diesem Akt durchaus kein neues Glaubensbekenntnis abzulegen gebraucht.
Die auf diese Weise der katholischen Kirche sich anschließenden Russen, würden dann allerdings in irgend einer russinischen (ruthenischen) Diözese, etwa in Galizien eingeschrieben und in dieselbe aufgenommen werden müssen. Den lateinischen Bischöfen (z.B. in Paris) müßte dann aber die facultas beigelegt werden, solchen der uniert-russinischen Kirche als denn angehörenden Convertiten, an dem Orte, wo es kaum russinische Priester und Kirchen gibt, die heiligen Sacramente in lateinischen Kirchen nach lateinischem Ritus empfangen lassen zu dürfen.
Das von allen wirksamste Mittel, um die künftige Union anzubahnen, möchte aber sein, daß man mit allen Kräften die sämmtlichen unirten Kirchen des orientalischen Ritus geistig und ethisch zu heben suchte. Diese heben sich trotz der Verbindung mit Rom wenig über das geistige Niveau der schismatisch orientalischen Kirche empor. Der offenbare Grund davon liegt in der ziemlich allgemein verbreiteten Verkommenheit des unierten Clerus. Sie haben, wie ich meine nur einen Mönchsorden, die Basilianer. Dieser uralte ehrwürdige Orden ist aber ein kontemplativer. Er ist unthätig, vermag nicht kräftig ins Volksleben einzudringen, hat wenig Ausbildung und Kraft zur Predigt, zur Mission, zur Erziehung des Volkes und des Clerus. Der Weltklerus ist durch den Mangel des Coelibats von den hohen geistlichen Würden ausgeschlossen. Seine Verheirathung zieht ihn von allem höheren ab, er ist in der Regel ungebildet, gemein und roh. Sein Einfluß, seine Einwirkung auf das Volk ist dadurch gering. Zur Hebung solcher Zustände können nur die Mahnungen und Verbesserungen vom Heiligen Vater selbst ausgehen. Eins aber scheint mit wünschenswerth, nämlich daß alle unsere thätigen Orden, die Redemptoristen, Jesuiten, Lazaristen, Schulbrüder, etc. angewiesen werden, in den Landstrichen der unirten Russinen, Slawonen, Rumänen eigene Konvikte ihrer Orden anzulegen, in welchen eben Unirte ihre Bildung erhielten, und dann einträten, aber mit der Weisung nach ihrem unirten Ritus zu leben und zu zelebrieren. Wenn der Kaiser von Österreich sich der Sache in diesem Sinne annähme, so könnte er der Kirche unermeßliche Dienste leisten.
Mit einer solchen geistig gehobenen und eine mächtige kirchliche Thätigkeit entwickelnde unirten orientalischen Kirche würde man, glaube ich, mit Leichtigkeit die benachbarten schismatischen Orientalen zu sich hinüberziehen. In Bulgarien will das Volk sich von Constantinopel losreißen, es will seinen phanariotischen Clerus los sein und verlangt einen Clerus mit mit slavonischem Ritus. Hätte man in diesem Augenblicke eine Anzahl tüchtiger Mönche und Weltgeistlicher von slavonischem Ritus, wie ich sie oben angedeutet, Bulgarien wäre in wenigen Jahren katholisch!