Julius Ficker an Leo Thun
Innsbruck, 2. August 1858
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Regest

Der Historiker Julius Ficker sendet Leo Thun einige Informationen zu Gottfried Muys. Ficker war von Leo Thun beauftragt worden, Erkundigungen über jenen anzustellen. Hierzu wandte sich Ficker an Karl Simrock und Joseph Floss in Bonn. Während ersterer auf Grund von Krankheit keine Auskunft geben konnte, antwortete Floss ausführlich. Ficker gibt dessen Antwort in Auszügen in diesem Brief wieder. Floss kenne Muys persönlich und könne ihn aufgrund seines Talentes und seiner Kenntnisse in alter Geschichte durchaus empfehlen. Seine Schriften seien erst kürzlich in den Göttinger gelehrten Anzeigen günstig besprochen worden. Bedenken äußere Floss nur hinsichtlich Muys eigentümlichem Charakter. Des Weiteren gibt Floss auch eine Aufklärung zu den Muys gemachten Vorwürfen über dessen angebliche revolutionäre und atheistische Gesinnung. Ficker hofft, dass die Hinweise von Floss dem Minister behilflich seien und verbürgt sich für Floss.

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Schlagworte

Edierter Text

Eure Excellenz!

Leider stand es nicht bei mir, Eurer Excellenz in Ausführung des gnädigen Auftrags vom 19. Juni laufenden Jahres1, Erkundigungen über den Dr. Muys einzuziehen, früher zu berichten; ich hatte mich sogleich nach Bonn gewandt, auch bereits vor einiger Zeit eine vorläufige Antwort von dort erhalten, aber mit der ausdrücklichen Bitte, mich daraufhin noch nicht zu äußern, damit noch einige Erkundigungen zur Sicherung des Urtheils eingezogen werden könnten. Jetzt erhalte ich vom Prof. Dr. Floss, welchem ich mit der Bitte um Verschwiegenheit die einzelnen dem Dr. Muys gemachten Vorwürfe namhaft machte, ein ausführliches Schreiben, aus welchem ich das Wichtigste glaube wörtlich anführen zu sollen:
„Sofern die Klage auf atheistische und revolutionaire Grundsätze lautet, dürfte sie unbegründet sein. Vor kaum sechs Wochen war ein strebsamer Geistlicher der Diözese Münster, der hier studirt, bei seinem Bischofe verklagt, weil er mit Dr. M[uys] viel umgehe, welcher revolutionairen und atheistischen Grundsätzen huldige. Der Bischof von Münster schickte die Klage an den hiesigen Dechanten und Prof. Dieringer sagte mir damals, das Ergebnis sei durchaus zu Gunsten des Dr. Muys ausgefallen. Dasselbe wiederholte mir vorgestern der Dechant unter Vorlage eines Briefes des Bischofs von Münster, worin dieser sich durch das Ergebnis der Untersuchung befriedigt erklärte. Dr. M[uys] hielt sich früher hier ausschließlich an die sogenannten spezifischen Ultramontanen, zumal Clemens und Martin“ (den jetzigen Bischof von Paderborn) „und außerdem an Aschbach.“
„Daß Dr. M[uys] Schulden habe, ist wenigstens hier nicht bekannt. Er lebt, wie man nicht anders weiß, äußerst nüchtern und bescheiden. Daß die langjährigen Studien sein Vermögen ziemlich aufgezehrt haben, möchte ich für wahrscheinlich halten.“
„Seine Lehrgabe kann ich nicht beurtheilen. Man sagt mir mehrfach, sein Vortrag habe etwas Monotones. Ähnliches äußerte man mir zur Zeit, jedoch nur als kleinen Schatten, über seine Probevorlesung. Jemand, der ihn in verwichenem Winter, ich glaube in griechischer Geschichte hospitirte, sagte mir, sein Vortrag verrathe großes Wissen und Studium. Die Art und Weise seines Vortags fand dieser im Ganzen tadellos.“
„Alle, die M[uys] näher kennen, von seinen Gymnasialstudien an bis jetzt, halten ihn für einen begabten Menschen. Sein Fleiß war in hohem Grade lobenswerth. Allein er warf sich auf ein abstruses Gebiet, hinterasiatische Geschichte und Sprachvergleichung. Ich vermuthe, daß ihn hierauf eine Preisfrage führte, die er als Student hier mit Anerkennung löste, und welche die assyrische Geschichte betraf. Würde er seine Forschungen über solche Dinge den Zuhörern produziren, so dürfte man darin Mangel an Lehrtakt finden. Allein ich habe keine positiven Anhaltspunkte, auf die hin ihn ein solcher Vorwurf träfe; vielmehr loben mir Studenten seine alte Geschichte. Auch las M[uys] über mittlere und neuere Geschichte, welche jedoch weit weniger sein Fach sein soll.“
„Seine Schriften sind jüngst in den Göttinger gelehrten Anzeigen von Benfey, wie man mir sagt, günstig besprochen worden; des Heftes selbst konnte ich nicht habhaft werden. Ein hiesiger sachkundiger Privatdozent sagte mir, sie seien höchst geistreich, allein stellenweise äußerst kühn. Da die Schriften vorliegen, ließe sich wohl leicht ein sachkundiges Urtheil ermitteln.“
„Wenn man gesagt hat, M[uys] sei wenig geachtet, so ist das Richtigere, daß er, seit Aschbach und Clemens fort sind, die auf ihn wegen seines Talents zu halten schienen, fast mit keinem Kollegen mehr verkehrt und daher den meisten kaum noch viel mehr, als dem Namen nach bekannt ist. Seit ihm vor dritthalb Jahren mißlang, die Geschichtsprofessur in Braunsberg zu erhalten, scheint er, an einem Fortkommen in Preußen verzweifelnd, sich vollends auf sich zurückgezogen zu haben. Da er elternlos aufwuchs, mag er von Haus aus Widerspruch ungern empfinden. Die Zurücksetzung und Aussichtslosigkeit scheint ihn verbittert und dies ihn in den Ruf gebracht zu haben, daß er schwer umgänglich sei und über seine wirklichen oder vermeintlichen Widersacher, wohl auch über seine Gönner, da er nicht voran komme, vorkommendenfalls eine scharfe, wohl gar böse Zunge führe. Seine Mitschüler am Gymnasium wollen nach der Seite nur das an ihm bemerkt haben, daß, wer ihm widersprach, selten lange sein Freund blieb. Als Universitätsstudent sagte man ihm ein starkes gelehrtes Selbstgefühl nach.“
„Daß seine Berufung, wenn sie erfolgt, einen übeln Eindruck machen würde, vermag ich nicht abzusehen. Die hiesigen Protestanten ignoriren sie; die Katholiken werden sich freuen, einem begabten offenbar entmuthigten und aussichtslosen jungen Manne eine Zukunft geöffnet zu sehen.“
„Soll ich kurz resumiren, so ist M[uys], was sein Talent und seine Kenntnisse zumal für alte Geschichte betrifft, jedenfalls empfehlenswerth. Wie weit sein Lehrtakt reicht, kann ich nicht beurtheilen, doch scheint mir auch da kein wesentliches Bedenken obzuwalten. Bedenken erregt nur die erwähnte Charaktereigenthümlichkeit, von der ich annehmen muß, daß sie, je nachdem seine Umgebung ist und sich zu ihm stellt, in Widerspruch, bittere Zunge und Unverträglichkeit umschlagen könnte. Andererseits bleibt auch möglich, daß, wenn sein Leben sich freundlicher gestaltet, die Befürchtung nicht zutrifft und er sich einem freundlichen geselligen Verkehr hingibt; jedenfalls wird da sehr viel auf die Umgebung ankommen. Eine ernste Mahnung nach der Seite hin dürfte, wenn er berufen wird, etwa durch Prof. Aschbach, der ihm Autorität ist, ihm zugehen können und jedenfalls nicht überflüssig sein. Hier verkehrt M[uys] gegenwärtig nur mit dem oben erwähnten jungen Geistlichen und einem talentvollen, aber nicht ganz ohne seine Schuld hoffnungslosen katholischen Privatdocenten.“
„Ich bin mir bewußt, bei diesem Urtheile, mich durch die Lage des Dr. M[uys] – die Lage des katholischen Privatdocenten an der Bonner Universität, zumal wenn seine Finanzen auf die Neige gehen, ist bekanntermaßen mehr als trostlos und wahrhaft bejammernswerth – nicht im Geringsten haben bestimmen zu lassen.“
Aus andern Mittheilungen meines Freundes hebe ich noch hervor, daß derselbe früher einigen Umgang mit M[uys] hatte, seit dritthalb Jahren aber in keiner nähern Verbindung mehr mit ihm steht. Dafür, daß sein Urtheil nach bestem Gewissen abgefaßt ist, glaube ich einstehen zu können.
Ich hatte mich weiter an Herrn Prof. Simrock gewandt, welcher aber, kaum von einer schweren Krankheit genesen und den Dr. Muys nicht näher kennend, nicht in der Lage war, Erkundigungen einzuziehen. Unmaßgeblicher Weise scheint es mir auch fast, als dürften Eure Excellenz in Vorstehendem vielleicht genügende Anhaltspunkte zur Entscheidung über das Gewicht der vorgebrachten Beschuldigungen finden. Sollte es dagegen im Wunsche Eurer Excellenz liegen, daß ich weitere Erkundigungen einziehe, so würden sich mir immerhin noch Gelegenheiten dazu bieten, freilich schwer, ohne einiges Aufsehen zu erregen, weshalb ich ohne ausdrückliche Aufforderung dazu keine weitern Schritte thuen möchte.
Mit größter Hochachtung und Ehrerbietung

Eurer Excellenz

ganz gehorsamster und ergebenster
Dr. Ficker

Innsbruck 1858, Aug. 2.