Karl Ernst Jarcke sendet Leo Thun seine Denkschrift "Die Österreichischen
Universitäten". Erläuternd fügt Jarcke hinzu, dass er mit der
Denkschrift einen doppelten Zweck verfolge: Zum einen sei sie eine
Kritik des gegenwärtigen Zustandes der österreichischen Universitäten,
zum anderen werden in dem Promemoria das anzustrebende Ziel und die
zukünftigen Aufgaben der Universitäten erläutert. Jarcke fürchtet
nämlich, dass der bisher eingeschlagene Weg nicht zum gewünschten Ziel
führen werde – vielmehr sei vieles nicht besser als im Vormärz. Nach wie
vor seien besonders die juridischen Fakultäten nichts anderes als
Vorbereitungsanstalten für den österreichischen Staatsdienst. Auch die
Berufungen von Professoren wie George Phillips und Constantin Hoefler
hätten daran nichts geändert. Jarcke betont auch, wie schwierig es für
den Unterrichtsminister sei, die jahrelange Stagnation aufzubrechen und
einen Neubeginn einzuleiten – daher will er behiflich sein.
In der
beigelegten Denkschrift beschreibt Jarcke insbesondere die geistige
Stagnation während des Vormärzes, ausgelöst durch die Zensur und die
geringe wissenschaftliche Qualität der Universitäten. Dies hatte aus
seiner Sicht nicht nur negative Auswirkungen auf die österreichische
Wissenschaft, sondern auf das gesamte Staatswesen und die politische
Einstellung der Jugend. Das zentrale Ziel sei es daher, die
Universitäten wieder zu wissenschaftlichen Anstalten umzugestalten. Als
Vorbild hierzu muss aus Jarckes Sicht das norddeutsche
Universitätssystem dienen, allerdings mit der wichtigen Anpassung, den
religiösen Indifferentismus, der an diesen Universitäten herrsche, nicht
mit zu übernehmen. Stattdessen solle Österreich der katholischen Kirche
wieder eine Vormachtstellung einräumen und die Wissenschaft im Geiste
der katholischen Kirche fördern. Dann werden sowohl die Wissenschaften
als auch der österreichische Staat wieder zu voller Blüte gelangen. Als
ein wesentliches Mittel, um den Aufchwung zu beschleunigen schlägt
Jarcke die Berufung ausländischer Professoren vor, womöglich stets zwei
für dasselbe Fach, um durch Konkurrenz auch einen Wettbewerb zu
entfachen. Den Anhängern des alten Studiensystems muss aus seiner Sicht
entschieden entgegen getreten werden, indem auf die bisherigen positiven
Erfahrungen und den Vorsprung der norddeutschen Universitäten verwiesen
werde.
Beilage: Denkschrift von Karl Ernst Jarcke "Die österreichischen Universitäten".
Teilweise abgedruckt in: Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962, S. 192–198.
Euer Excellenz,
habe ich die Ehre hierbei das gewünschte Memoire zu überreichen1, muß jedoch dasselbe mit
folgenden nothwendigen Bemerkungen begleiten.
Der Zweck dieser Denkschrift
ist ein doppelter. Sie enthält eine energische Protestation gegen das
Rückgreifen auf vormärzliche Prinzipien bei der Behandlung des österreichischen
Universitätswesens und bezeichnet außerdem das Ziel, welchem meines Erachtens
die dermalige Verwaltung zustreben müsste.
Eine ganz andere Frage ist es: wo
stehen wir und wohin gehen wir heute thatsächlich?
Während ich mich der
Hoffnung hingeben darf in Betreff des Gegenstandes der beiliegenden Denkschrift
mich der vollen Zustimmung Euer Excellenz erfreuen zu dürfen, habe ich
Hochdemselben aus meinen schweren und großen Bedenken gegen den heutigen Zustand
schon bei unserer neulichen Unterredung kein Geheimnis machen zu dürfen
geglaubt. Ich fürchte auf den bis jetzt eingeschlagenen Wegen gelangen wir zu
keiner wirklichen Verbesserung der vormärzlichen Zustände; in welchem Grade die
unabhängige öffentliche Meinung aller Schattierungen sich gegen die dermaligen
Anstalten des öffentlichen Unterrichts ausspricht, kann Euer Excellenz kein
Geheimnis sein.
Daß die Aufgabe, welche ein dermaliger Minister dieses
Faches in Oestreich zu lösen findet, eine
der schwierigsten sei, die es im Staatsleben geben kann, habe ich bereits in
meinem Memoire angedeutet. Es ist die große Frage, ob sie überhaupt für
menschliche Kräfte lösbar sei. Ein Volk intellectuell zu Grunde zu richten ist,
wie Figura zeigt, möglich, aber die Wiederherstellung hat ihre Schwierigkeiten,
die schwer zu überwinden sind, und die berühmte Mühle: alte Weiber wieder jung
zu machen, existirt meines Wissens nur im Ballet.
Dies darf uns freilich
nicht abhalten, die vorhandenen Schwierigkeiten als lösbar zu betrachten und an
die Möglichkeit der Erweckung eines wissenschaftlichen Geistes in Oestreich zu glauben. Jedenfalls ist soviel
gewiß, daß derselbe in vielen Einzelnen lebt und es wäre kein geringer Gewinn,
wenn die Regierung das wissenschaftliche Leben in diesen Einzelnen nach Kräften
förderte und wenigstens Sorge trüge, es in keinem Falle durch ihre Anstalten zu
verkümmern.
Eine Kritik des gegenwärtigen Zustandes der österreichischen
Universitäten liegt außer meiner Absicht; mir mangelt dazu die Gesundheit und
die physische Kraft, auch bin ich über das Detail mancher Thatsachen noch nicht
genau genug unterrichtet. Es kommt hier auf zweierlei Gegenstände an: Personen
und gesetzliche Vorschriften.
Was die ersteren betrifft, so ist es nicht
mein Beruf die Rolle zu spielen, in welcher Satan, nach dem Buche Hiob vor dem
Thron der göttlichen Majestät auftrat. Mag immerhin das, wie mir scheint,
allgemeine Urtheil der öffentlichen Meinung über die Räthe und Werkzeuge, Euer
Excellenz, sowie über die Persönlichkeit sehr vieler, theils aus dem Auslande
Berufener, theils aus dem Inlande eigends Herbezogener das allernachtheilige
sein, so hat mich dennoch niemand zum Ankläger meiner Brüder ernannt. Euer
Excellenz werden, wenn Hochdieselben diese Species von Wahrheiten hören wollen,
in der Region der höheren Polizei ohne Zweifel redliche und fähige Männer
finden, die jedweden Aufschluß über Personalitäten zu geben vollkommen imstande
sind und die öffentliche Meinung weit besser constatiren können als ich. Ich
beschränke mich daher darauf die Summe der Eindrücke, welche ich durch alles
empfangen habe, was ich seit vorigen Herbst über das österreichische
Universitätswesen hörte, dahin anzugeben: es ist im Wesentlichen beim Alten
geblieben und keine Aussicht einer Änderung zum Bessern vorhanden. Insbesondere
sind die juristischen Facultäten heute wie vorher nichts als
Vorbereitungsanstalten zum österreichischen Bureaudienst, beherrscht von einem
ebenso stupiden als revolutionären Naturrecht, welches heute wie vordem regiert;
die Berufungen selbst von Männern wie Phillips und Hoefler haben keinen durchgreifend regenerirenden Einfluß gehabt
und konnten ihn nicht haben; die Berufenen blieben exotische Gewächse, die auf
diesem fremden Boden keine Wurzel schlugen und ohne Verläugnung dessen, was
gerade das Beste an ihnen ist, niemals schlagen werden; im günstigsten Falle
können sie Einzelne zur Wahrheit zurückführen, während die Koryphäen des
Liberalismus, welche weltkundigermaßen die Märzrevolution gemacht haben und auf
ihren Kathedern belassen, ja gehoben und ausgezeichnet sind, die Massen der akademischen Jugend ins Verderben stürzen.
Dies ist es,
was ich, um jedes Mißverständnis meiner Intention zu vermeiden, als Zusatz
meiner Denkschrift noch beifügen zu müssen glaubte. Möchte die Letztere den
Wunsch Euer Excellenz befriedigen.
Mit aufrichtigster Verehrung verharre ich
Euer Excellenz
ganz gehorsamster Diener
Jarcke
Wien, den 7. August 1852
Die österreichischen Universitäten
Unter allen Aufgaben, welche die Regierung im Jahre 1849 bei der
Reconstruction von Oestreich zu lösen
vorfand, war die Reglung des Universitätswesens eine der allerschwierigsten
und dringendsten. Hartnäckiges Festhalten an den Zuständen, welche die
bisherige Gesetzgebung geschaffen, wäre nachdem diese ihren Werth durch ihre
Früchte in den Märztagen kundgegeben hatten, baarer Unverstand gewesen;
nicht minder mußte aber auch die Annahme des norddeutsch-protestantischen
Universitätswesens in Bausch und Bogen bedenklich und unpraktisch, ja
unmöglich erscheinen. Zugleich waren die österreichischen Universitäten
dermaßen von einer jede Bewegung erstickenden positiven Gesetzgebung
eingezäunt, daß es rein undenkbar war, die Gestaltung ihrer Zukunft der
Natur zu überlassen. Es mußte ohne Aufschub darüber entschieden werden: ob
und inwiefern die bisherigen Gesetze noch länger gelten sollten, und hiemit
war thatsächlich die Nothwendigkeit gegeben einen Zustand zu schaffen, der
die Mitte hielt zwischen den bisherigen Verhältnissen und dem
protestantisch-deutschen Universitätswesen. Es hieße von menschlichen
Kräften augenscheinlich zu viel verlangen, wenn man forderte, daß diese
Aufgabe in allen ihren Einzelheiten auf den ersten Schlag gelöst, daß hier
mit dem ersten Wort das Rechte und Maßgebende definitiv getroffen, der
Conflict so vieler wiederstrebender Interessen und Ansichten in allen seinen
Details von vornherein geschlichtet werde. Kann in dieser Beziehung nur die
Zeit befriedigend wirken, so war es nicht anders zu erwarten, als daß im
Anfange in Beziehung auf Personen und Einrichtungen Schritte geschahen, von
denen man wünschen mußte, daß sie zurückgethan würden. Nur der Zielpunkt,
der zu erreichen und das Prinzip, auf welches Oestreich durch die Natur seiner Verhältnisse hingewiesen
ist, muß feststehen; in Betreff der Mittel und Wege sind Schwankungen und
verschiedene Ansichten nothwendig und unvermeidlich.
Alles Nachfolgende
soll zur Orientirung in Betreff der Prinzipien dienen.
Die deutschen
Universitäten (außerhalb Oestreich)
sind seit den letzten Jahrhunderten das Organ für zwei verschiedene
Funktionen des geistigen Lebens der deutschen Nation. Sie sind die Anstalten
für den Unterricht gewisser Klassen, welche nach Herkommen und Gesetz auf
den Universitäten ihre Bildung erhalten haben müssen, um ihrem Lebensberufe
obliegen zu dürfen. Sie sind aber auch die Werkstätten des
wissenschaftlichen Lebens und Fortschritts, die Hebel der geistigen Bewegung
im deutschen Volke. Damit diese allgemeinen Sätze nicht mißverstanden
werden, ist es nothwendig bestimmt anzugeben in welchem Sinne die hier
gebrauchten Worte: wissenschaftliches Leben, Förderung der Wissenschaft und
wissenschaftliche Bewegung gemeint sind.
Dem wissenschaftlichen Sinne
ist die Wissenschaft kein Stoff, der ein für allemal fertig abgeschlossen
und vollendet daläge, sondern ein solcher, der in allen seinen Zweigen der
Ergänzung, Erweiterung und tiefern Ergründung durch unausgesetzte Thätigkeit
bedarf. Der Drang hierzu oder der wissenschaftliche Geist tritt bei
einzelnen Individuen und ganzen Völkern sowie zu verschiedenen Zeiten, in
verschiedenem Grade hervor. Gleich wie bei manchen Völkern und in gewissen
Perioden sich der Trieb nach Entdeckungsweisen einstellt, so bei andern die
Sehnsucht und das unabweisliche Bedürfnis nach geistigen Ausflügen und
Errungenschaften.
Ihrer Form nach kann die wissenschaftliche Thätigkeit
eine historische oder eine philosophische sein. Jene faßt die Aufgabe von der Seite, daß sie untersucht: wie der zu erforschende Gegenstand
in der Zeit entstanden ist und sich in der Zeit entwickelt und bis zu seiner
heutigen Gestalt ausgebildet hat. Die philosophische Bearbeitung sucht in
den veränderlichen Thatsachen der Natur und der Geschichte die ewig
bleibende Idee zu erkennen; die immanente Wahrheit in der wechselnden
Erscheinung durch systematisches Denken zu begreifen.
Es versteht sich
von selbst, daß die wissenschaftliche Thätigkeit und Bewegung, je nach den
individuellen Zwecken und Absichten derer von denen sie ausgeht, eine gute
und heilsame oder eine schlechte und verderbliche sein kann. Hier gilt, was
von der Thätigkeit in jeder Sphäre des Lebens gesagt werden kann: wahrhaft
heilsam und wohlthätig ist nur, was der Wahrheit und somit allein und
lediglich was Gott dient. In dieser Beziehung ist zu bemerken, daß durch ein
eigenthümliches, unglückliches Verhängnis, von dessen praktischen Wirkungen
weiter unten die Rede sein wird, die Förderung der Wissenschaft und der
geistige Fortschritt der Nation in Deutschland fast
ausschließlich in die Hände des Protestantismus fiel. Die Universitäten,
welche wie oben bemerkt die Werkstätten des geistigen Lebens waren,
bewahrten jenen Charakter als Anstalten für den wissenschaftlichen
Fortschritt nur in protestantischen Ländern. Wir können es uns leider nicht
verhehlen: seit einem Jahrhundert waren die Katholiken in
Deutschland in der deutschen Literatur so gut wie
geistig todt [sic!] und erst in neuester Zeit, wo in gemischten Ländern die
Universitäten nothgedrungen auch katholische Elemente in sich aufnehmen
mußten, entstand, um hier nur geborne Katholiken zu nennen, durch Männer wie
Windischmann, Vater
und Sohn, Döllinger, Möhler, Ringseis, Görres, Klee, Ferdinand
Walter, Mone,
Dieringer usw. eine
katholische Wissenschaft. Die Zeitgenossen sahen mit Erstaunen, daß es
möglich sei, die alte katholische Wahrheit in einer dem neunzehnten
Jahrhundert zusagenden Form zu verfechten.
Fragen wir, wie sich während
dieser Zeit der Zustand des Universitätswesens in Oestreich gestaltet hatte? So kann die Antwort nur dahin
lauten, daß der Unterricht rein und lediglich vom
Standpunkte der Befriedigung des nächsten und dringendsten praktischen
Bedürfnisses aus gefaßt wurde, die Idee des geistigen Lebens und wissenschaftlichen Fortschritts aber
absolut und völlig ausschied. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man
behauptet, daß es auf den österreichischen Universitäten zu jener Zeit keine
Wissenschaft, sondern ein bloßes Auswendigwissen bestimmter Compendien gab,
welche den Schülern von den Lehrern mit andern Worten vorgetragen und von
diesen dem Gedächtnisse eingezwungen wurden. Diese Compendien hatten die
Autorität der Regierung, von der sie vorgeschrieben waren, hinter sich und
somit das Ansehen einer Art von Polizeibefehl, wenngleich eine ernsthafte
Controlle, daß der Lehrer wirklich nichts anderes sage als was im Buche
stehe, übelwollender Energie gegenüber schwer durchzuführen war. Doch fanden
Emanzipationsversuche solcher Art verhältnismäßig selten statt, da die
Regierungslehrbücher der geistlosesten Faulheit ein gar zu bequemes
Ruhekissen unterbreiteten. In einem weiten Kreise galt der Grundsatz, daß
wer nicht Lust habe höheren Orts als unruhiger Kopf notirt zu werden,
wohlthue sich aller Gedanken zu enthalten, die nicht in den Staatscompendien
verzeichnet standen.
Vor etwa zwanzig Jahren hatte ein österreichischer
Professor der Jurisprudenz, heute eine der größten Celebritäten des
inländischen „Lehrkörpers“, eine Unterredung mit einem Collegen aus
Deutschland, in welcher er sich angelegentlich zu
erfahren bemühte, worin denn im Auslande die „historische Methode“ in der
Bearbeitung der Rechtswissenschaft bestehe. Als er hierüber verständigt
worden, trat er entsetzt zurück und rief: „Wenn ich dergleichen thäte, würde
ich meine heiligsten Pflichten verletzen!“ Er scheint es für seine
Obliegenheit gehalten zu haben an der Ansicht festzuhalten: jedes
österreichische Gesetz sei ein vom Himmel gefallener Brief. Allerdings mußte
es diese fromme Meinung beeinträchtigen, wenn die Zuhörer der
Rechtsgeschichte erfuhren, daß auch in Oestreich Gesetze und Rechte auf ganz natürliche Weise zur
Welt gekommen seien. War jedoch in solcher Weise die historische Bearbeitung
der Jurisprudenz in Oestreich geächtet,
so lag die schwierige Frage nahe, was denn die Professoren ihren Zuhörern
über Gesetzbücher, die vor noch nicht gar langer Zeit in der Muttersprache
verfaßt und an sich schon deutlich genug waren, sagen konnten? Diese
Verlegenheit war es hauptsächlich, welche jene perfide und doch so bornirte
Sophistik erzeugte, die ein Geschäft daraus macht, das Gewisse ungewiß und
das Klare dunkel zu machen.
Von diesem dem Auslande zum Glück damals
lange noch nicht hinreichend bekannten Zustande machten nur die unmittelbar
praktischen Fächer der Medizin und Chirurgie eine Ausnahme, zu welcher das
Bedürfnis zwang und die durch die Spitäler der Hauptstadt so nahe gelegt
war, daß sie nicht abgewiesen werden konnte. Gab es trotz alledem in
Oestreich so viel höhere
wissenschaftliche Talente wie in anderen Ländern, so war die einfache Folge
jener Lage der Dinge die, daß jeder, der wahrhaft wissenschaftlichen Beruf
hatte, ihn weder als Lehrer noch als Lernender auf einer österreichischen
Universität befriedigen konnte, sondern sich, wolle er nicht auswandern, in
die Einsamkeit zurückziehen und möglichst vor Conflikten mit der Censur
hüten mußte. Niemand war wegen, sondern höchstens trotz seines wissenschaftlichen Geistes österreichischer
Universitätsprofessor. Der Geist der Wissenschaft hatte von den hohen
Schulen dieses Landes Abschied genommen, und seit Menschengedenken hatte in
der Jurisprudenz wie in der Theologie, in der Philosophie wie in der
Geschichte kein österreichischer Professor einen deutschen, geschweige denn
einen europäischen Namen gehabt. Der Ruf der meisten Universitätsgelehrten
war nicht über die Bannmeile ihres Aufenthaltsortes hinaus gedrungen.
Es
ist nicht zu läugnen, daß der eben geschilderte Zustand von vielen, zumal
von einer gewissen Klasse von Staatsmännern für höchst erwünscht und
besonders erfreulich gehalten wurde; insbesondere arbeitete die Censur nach
besten Kräften daran, ihn unverbrüchlich festzuhalten und möglichst
auszubilden. Allein in Wahrheit lassen sich große Nachtheile nicht
verkennen, die sich jener wissenschaftlichen Barbarei anschließen mußten,
während dieselbe bei wahrhaft unpartheiischer Betrachtung die Vortheile,
welche man ihr nachrühmte, keineswegs gewährte. Die Stagnation, welche auf
den Universitäten herrschte, führte zu einer geistigen Dürre, zu einem
Verkommen fast aller höheren Talente, zu einer Verkümmerung der Bildung der
Nation die blos auf das Nothwendige beschränkt, nur Mittelmäßigkeiten
erzeugen konnte, womit ein großer und mächtiger Staat wie Oestreich auf die Dauer nicht leben und
bestehen kann. Waren die wahrhaft tieferen wissenschaftlichen Talente, die
Menschen von ächtem geistigen Beruf zu einer unerfreulichen Vereinsamung
verurtheilt, so konnte dies auch dem Staate nicht gleichgültig sein; es
bestand eine mehr oder weniger ausgesprochene Feindschaft, ein stiller Krieg
zwischen den oben geschilderten herrschenden Regierungsgrundsätzen und den
besseren und besten Köpfen im Lande. In den oberen Schichten der
Gesellschaft war mit dem Erlöschen des wissenschaftlichen Lebens bei den
meisten auch die Befähigung dazu zu Grunde gegangen: der sittliche Ernst,
der etwas höheres kennt als schaale Vergnügungssucht und jenes
intellectuelle Bedürfnis, welches nach Salust den Menschen von dem mit dem
Antlitz der Erde zugewandten, allein dem Bauche gehorchenden Thiere
unterscheidet. Es geschah noch Schlimmeres. In der Lücke, welche die
widernatürliche Unterdrückung alles ernsten, wissenschaftlichen Strebens
geschaffen hatte, erwuchs eine spezifische österreichische Belletristik,
deren antichristlicher Haß gegen alles bestehende in Staat und Kirche, ja
überhaupt gegen alles Heilige und Göttliche, vielleicht in der ganzen
modernen Geschichte Ihresgleichen nicht hat. Die Natur duldet keinen leeren
Raum; wo der ernste Geist der Wissenschaft sich ausgeschlossen sah, da zog
der Dämon der antichristlichen Poesie ein, und dieser war es, der den
gebildeten Klassen in Oestreich seinen
Stempel aufdrückte.
Die schlimmsten Wirkungen hatten die oben
geschilderten Zustände in Oestreich auf
die Kirche. Infolge des geistigen Entwickelungsganges, den die deutsche
Nation genommen, hatte zu Ende des vorigen und zu Anfange des jetzigen
Jahrhunderts der antichristliche Indifferentismus in der Wissenschaft wie im
Leben den Sieg behalten, und die katholische Sache schien, da die
Vertheidiger derselben schwiegen oder gar nicht vorhanden waren, für immer
überwältigt. Allein soweit das Leben geht, geht nach des Dichters Worten
auch die Hoffnung. Gerade die übermüthige Siegestrunkenheit des Irrthums und
die schnöde Verachtung der Wahrheit nöthigte die Katholiken in
Deutschland sich zu ermannen, und das freie
wissenschaftliche Leben der Universitäten bot die Form und das Mittel: dem
Protestantismus und Indifferentismus gegenüber in allmäligen Übergängen eine
katholische Wissenschaft, insbesondere eine katholische Geschichtschreibung
zu gründen. In Oestreich dagegen blieb
unter den dort geschilderten Verhältnissen die Reaction des katholischen
Lebens gegen den Tod, mit welchem der Indifferentismus drohte, rein und
völlig aus. Die schlechteste Aufklärung aus den Zeiten des Unglaubens der
neunziger Jahre blieb hier bis auf die allerneuesten Zeiten nur in etwas
eleganteren Formen am Regiment und hatte ihre Verhärtung und Verbitterung
bis auf den Gipfel gesteigert; ihre Grundlage und Hauptstütze war das von
Regierungswegen vorgeschriebene und überwachte System des
Universitätsunterrichts. Waren unter diesen Umständen selbst viele
Geistliche an der katholischen Wahrheit irre geworden und hielten sie
selbst, insofern die Staatspolizei ihnen eine schwache Äußerung ihrer
Meinung gestattete, ein manteltrügerisches Zwischendurchschlüpfen für das
Klügste und Gerathenste, so war vollends der Abfall der gebildeten Klassen
des größeren Publikums in Oestreich,
besonders bei denen, welche durch die hiesige Universitätsbildung gegangen,
fast ohne Ausnahme allgemein. Die grenzenlose Verachtung der katholischen
Sache, welche in diesem Lande keine achtungsgebietenden Vertheidiger haben
durfte, war ebenso groß wie der maßlose Respect vor der protestantischen
Literatur des Auslandes. Aus dieser und aus dieser allein schöpften die
gebildeten Oesterreicher ihre Geistesnahrung; katholische Bücher hatten nur
insofern einen Anspruch gelesen zu werden, als sie im liberalen und
antikatholischen Sinne geschrieben waren. Nun ist aber die Politik von der
Religion heute noch weniger wie je zu trennen, und wie das von Walcker, Rotteck und der allgemeinen Zeitung
kirchlich erzogene österreichische, gebildete Publikum in Staats- und
Verfassungsangelegenheiten dachte, dies hat es im Jahre 1848 hinreichend
durch die That bekundet. Alle diese Verhältnisse waren tiefbetrübend, aber
noch immer nicht das Beschämendste. Das große volkreiche Oestreich war infolge seiner geistigen
Stagnation, die wiederum hauptsächlich aus seiner Abstinenz von aller
wissenschaftlichen Bewegung herrührte, eine rein inerte Masse geworden, die
auf nichts und auf niemanden einen intellectuellen und moralischen Einfluß
(sei es ein guter oder ein böser!) übte, sondern nur von außen her willenlos
und mechanisch bewegt und bestimmt, am Schlepptau der revolutionären Partei
fremder Länder hing. Von einer moralisch-politischen Leitung Deutschlands
konnte bei dieser geistigen Absperrung und immer steigenden Geringschätzung,
welche letztere sich als Folge der ersteren im übrigen
Deutschland entwickelte, auch nicht entfernt die Rede
sein. Die Schlußfolge, welche wir aus den hier entwickelten Sätzen ziehen,
liegt nahe, und wir können sie unverholen und mit deutlichen Worten
aussprechen. Oestreichs Ehre und
Oestreichs Staatsvortheil fordern
gleichmäßig, daß jene Zustände, die wir bisher geschildert haben, aufhören;
daß die Universitäten wissenschaftliche Anstalten werden und daß der
wissenschaftliche Geist in der Nation statt unterdrückt und befehdet zu
werden, geweckt und gefördert sei. Doch müssen gleich hier von vornherein
einige Mißverständnisse abgeschnitten werden, auf welche man häufig bei den
unbedingten Anhängern der älteren Zustände zu stoßen pflegt. Wenn im Obigen
der freien wissenschaftlichen Bewegung das Wort geredet ist, so hat dies
keineswegs den Sinn, als wenn dadurch den wissenschaftlichen Bestrebungen
irgendeiner Art das Recht eingeräumt würde, sich gegen die geltende Ordnung
in Staat [und] Kirche aufzulehnen. Im Gegentheil hat die Autorität in
beiderlei Sphären das volle Recht, jedwedem wissenschaftlichen Treiben,
welches diese Ordnung stört und das Bestehende in Staat und Kirche antastet,
Schweigen zu gebieten. Aber die regierende Gewalt muß warten, bis dieser
Fall der Störung sich ereignet, geradeso, wie Polizei und Justiz keineswegs
im Voraus jedem Menschen die Hand abhacken, weil er möglicherweise
Verbrechen mit derselben begehen könnte. Es ist ferner zu bemerken, daß es
durchaus verfehlt und widersinnig wäre die gesammte Bevölkerung von
Staatswegen durch eine wissenschaftliche Bildung zu treiben, die den meisten
unnütz, vielen selbst schädlich sein würde. Man verlange wissenschaftliche
Bildung von dem, der sie braucht und biete denen, die danach dürsten,
Gelegenheit sich dieselbe zu verschaffen. Aber man betrachte es nicht als
Staatszweck alle Landeseinwohner zu Gelehrten zu erziehen. Endlich (und dies
ist für die heutigen Zustände Oestreichs maßgebend) darf nicht vergessen
werden, daß keine Macht auf Erden imstande ist einem Volke, dessen Neigungen
nicht auf wissenschaftliche Beschäftigung gerichtet sind, diesen Geschmack
und diese Neigung einzuflößen. Daß die oben geschilderten Zustände die
Richtung zu wissenschaftlichem Treiben und geistiger Beschäftigung bei der
Masse der Nation erstickt haben, leidet nicht den mindesten Zweifel; die
Frage ist nur, bei wie vielen Einzelnen noch Neigungen entgegengesetzter Art
vorhanden sind. Auf diese Einzelnen allein können die Bemühungen der
Regierung zur Belebung des wissenschaftlichen Geistes in Oestreich berechnet sein.
Fragen wir
nach diesem allem, was die Regierung zur Erweckung des geistigen Lebens,
dessen Staat und Kirche gleichmäßig bedürfen, thun soll und kann, so zeigt
sich beim ersten Blick, daß ihr nur sehr beschränkte Mittel für jenen Zweck
zu Gebote stehen. Jemandem Geschmack an Dingen beizubringen, die ihm
gleichgültig oder zuwider sind, gehört zu den schwierigsten Aufgaben, und
nicht minder schwer dürfte es sein den herrschenden Ton und Geist einer
enggeschlossenen Cooperation, wie der österreichische Lehrkörper,
umzustimmen. Der Regierung stand hierbei (hauptsächlich) nur das Mittel zu
Gebote, um neues Leben in das österreichische Universitätswesen zu bringen,
den bisher gesetzlichen Weg der Konkurse und Lehrkräfte zu verlassen und
(ausländische) ausgezeichnete Gelehrte, wo immer sie zu finden waren, auf
österreichische Lehrstühle zu berufen. Dies ist geschehen. Doch hängt hier
begreiflicherweise alles von dem Geiste ab, der die Wahlen leitet. Ein
zweites Mittel waren einige Änderungen der durch strenge Gesetze geregelten
Art und Weise des Lehrvortrages. Sollte das österreichische
Universitätswesen geistig belebt werden, so war vor allem nothwendig, die
zwangvolle Verpflichtung aufzuheben, welche dem Prinzip nach für die Lehrer
bestand: nach von Staatswegen vorgeschriebenen Lehrbüchern zu lesen, nicht
minder mußte den Professoren die natürliche Freiheit wiedergegeben werden,
den Stoff, den sie zu tradiren haben, in der ihnen am geeignetsten
erscheinenden Weise zu ordnen und abzutheilen. Ein Hauptbelebungsmittel
endlich, welches am geeignetsten scheint das Einschlafen der
Universitätslehrer auf ihren Lehrkanzeln zu verhüten, ist, wo es in
finanzieller Beziehung irgend durchgeführt werden kann, die Anstellung
zweier Professoren für ein und dasselbe Fach und die Gestattung der freien
Wahl an die Studirenden nach Belieben den einen oder andern zu
hören.
Die Anwendung der hier genannten Mittel für den oben bezeichneten
Zweck hat, wie es zu geschehen pflegt in Oestreich, bei vielen Anhängern des Alten eine Reaction in
der Stimmung hervorgerufen, und selbst die unbedingte Wiederherstellung des
Alten, wie es vor dem März 1848 bestand, findet heute ihre Anhänger. Diesen
altpatriotischen Gefühlen soll hier in keiner Weise zu nahe getreten werden,
doch dürfte es nöthig sein ihnen zwei unläugbare Thatsachen
gegenüberzustellen. Welche Rolle im Jahre 1848 die streng nach dem oben
geschilderten System erzogene, nur nach den vorgeschriebenen Compendien
unterrichtete, allein zum Auswendiglernen abgerichtete, halbjährig
examinirte, überwachte, durch eine Legion von Polizeigesetzen eingeschnürte
akademische Jugend spielte, als sie in der Aula zur Herrschaft über die
älteste Monarchie der Welt gelangt war, dies ist ebenso ein altkundiges
Factum, als es andererseits ohne Beispiel in der Geschichte ist. Die
Thatsache beweist also, daß die systematische Unterdrückung und Vernichtung
alles wissenschaftlichen Lebens und Strebens in der akademischen Jugend den
Staat und die Gesellschaft nicht nur nicht geschützt, sondern Oestreich in eben jenen Jünglingen, die des
Vaterlandes Söhne waren, Feinde erzogen hatte, gefährlicher als jede
auswärtige bewaffnete Macht. Schlimmeres als jene Aulaherrschaft konnte und
kann Oestreich in Beziehung auf die
studierende Jugend seiner Universitäten nicht begegnen; im übelsten Falle
hätten wir also unter einem Systeme, welches wissenschaftliche Bewegung
möglich macht, nichts Ärgeres zu erfahren, als wir bereits erlebt
haben.
Währenddessen haben sich auf den norddeutschen Universitäten
Erscheinungen hervorgethan, welche gleichfalls des ernstesten Nachdenkens
würdig sind. Auf keiner einzigen norddeutschen Universität hat die
studierende Jugend eine Rolle gespielt, die auch nur von Ferne mit der
Haltung und dem Benehmen der österreichischen Studenten zu vergleichen wäre.
Zeugen, deren Glaubwürdigkeit nicht dem leisesten Zweifel unterzogen werden
kann, bekunden, daß z. B. auf der Universität Bonn die Studierenden seit dem Jahre 1848 mehr
Fleiß und wissenschaftlichen Eifer an den Tag legen wie je. Nach einer
Angabe, die von einem Mann herrührt für dessen Wahrheitsliebe Schreiber
dieses bürgen kann, sei nur ein verhältnismäßig kleiner Bruchtheil der in
Bonn studierenden Jünglinge (etwa 80 unter 800)
von politisch unzuverlässiger Gesinnung; die Übrigen ernst, tüchtig, von
unbescholtenem Wandel und von Begierde beseelt, sich über die großen
politischen Fragen des Tages wissenschaftlich und gründlich zu unterrichten.
Als in Berlin der Professor Stahl staatsrechtliche
Vorlesungen im antirevolutionären Sinne halten wollte, fand er kein
Auditorium, welches die Menge der Zuhörer zu fassen imstande gewesen
wäre.
Es ist der Mühe werth über den Gegensatz zwischen den
österreichischen und den übrigen deutschen Universitäten nachzudenken, der
sich in diesen Thatsachen abspiegelt.