Der klassische Philologe Georg Curtius beklagt sich bei Hermann Bonitz über das Verhalten einiger Professoren der Universität Prag gegenüber ihren Studenten. Manche Professoren würden nämlich die Vorgaben des Organisationsentwurfs nur teilweise akzeptieren und vielfach in alte Verhaltensmuster zurückfallen: So werden etwa die Anwesenheit der Studenten kontrolliert oder Prüfungen durchgeführt, die nicht vorgesehen seien. Sollte diesem Zustand nicht Einhalt geboten werden, so wäre die Wiedereinführung des alten Systems der Semestralprüfungen wohl bald wieder auf der Tagesordnung. Manche Professoren, etwa Eduard Chambon oder Hermann Schwanert, würden dann sicherlich den erstbesten Ruf annehmen, um aus Prag fortzukommen. Curtius glaubt daher, dass nur ein Machtwort des Ministeriums Abhilfe schaffen könne. Abschließend erkundigt sich Curtius, ob in Wien eine ähnliche Entwicklung zu beobachten sei.
Abschrift <eines Briefes des Prof. Curtius an Prof. Bonitz>1
Was hat es denn mit den schauerlichen Gerüchten auf sich, welche in Betreff
bevorstehender Studienreformen – wie es scheint sind die Gymnasien gemeint – die
Zeitungen durchfliegen? Da ist von Wiedereinführungen der alten Prüfungen usw.
die Rede, von obligaten und nicht obligaten Fächern. Die Sache hat hier
bedeutendes Aufheben gemacht, zumal man – wie ich glaube mit Unrecht – sie auf
die Universitäten bezog.
Übrigens geht es mit diesen auch sicherlich schief,
wenn nicht sehr bald dem servilen Eifer einer Anzahl von Professoren ein Ziel
gesetzt wird, welche seit dem bekannten Ministerialerlaß über Disputationen etc.
die Studenten ärger als Schulbuben behandeln. Folgende Thatsachen kann ich Ihnen
verbürgen. Unserm Professor Padlesak
ist seit einem Erlaße, der seinen „Übungen in der Gymnasialpädagogik“ einen für
alle Lehramtscandidaten obligatorischen Charakter gibt, dermaßen der Kamm
geschwollen, daß er die Studenten zur Verzweiflung treibt. Er läßt in diesem
einstündigen Colleg nicht bloß Vorträge halten, sondern nöthigt jeden einzelnen
von Zeit zu Zeit eine schriftliche Arbeit einzuliefern. Als ihm eine Anzahl
davon gebracht wird, gibt er sie zurück, weil sie nicht in einem Formate
geschrieben seien. Außerdem liest er sehr oft den „Katalog“, ruft Leute, die nur
ein einziges Mal gefehlt haben, vor und reißt sie herunter wie Gassenbuben. Dazu
examinirt er auch noch über das Wenige, was er vorträgt oder dictirt, denn eine
Reihe von Stunden ist mit dem Dictiren einzelner Abschnitte aus dem
„Organisationsentwurfe“ hingebracht. Das nennt man Wissenschaft! Auch andere
Professoren fangen an, die Studenten wie Schuljungen aufzurufen und zu
examiniren, sich kleine elende Pensa von ihnen liefern zu lassen, ja sogar (so
Gubernialrat Schnabel) sie
Clausurarbeiten anfertigen zu lassen. Wenn man hierin nicht Einhalt thut, so
wird sich die Meinung immer allgemeiner verbreiten, die man schon jetzt vielfach
äußern hört, daß die Wiedereinführung der alten Prüfungen eine Erleichterung
wäre im Vergleich mit dem jetzigen Zustande, bei dem die Studenten der
ungezügelten Willkür der einzelnen Professoren preisgegeben sind. Ist es anders
möglich, als daß auf diese Weise binnen kurzem jedes selbständigere Streben in
den jungen Leuten erstickt und jener Unmuth wieder erneuert werde, aus dem
nichts hervorgehen kann als jämmerliche Mittelmäßigkeit? Natürlich gibt es eine
Anzahl von Professoren, die sich zu solchen Erbärmlichkeiten nicht herbeilassen.
Aber das Gift wird immer weiter um sich fressen und schon jetzt hört man Klagen
über unziemliches Betragen der Studenten, wovon nie die Rede war, solange man
diese behandelte, wie es sich gebührt. Wie steht es denn bei Ihnen in Wien? Zeigt sich dort nicht dasselbe? So
trüb wie jetzt ist mir der Zustand des Unterrichtswesens noch nie erschienen.
Mit meinen Zuhörern habe ich Grund zufrieden zu sein; aber was hilft es, wenn im
Ganzen die Barbarei hereinbricht, deren entsittlichender Einfluß sich auch denen
bemerkbar machen wird, die keine Schuld daran haben! Ich stehe mit dieser
Auffassung nicht allein da, Höfler z. B. theilt sie ganz, und Chambon, der mit den besten Hoffnungen herkam, ist schon völlig
umgestimmt. Er wird gewiß, wie Schwanert, die erste Gelegenheit benützen fortzukommen. Helfen
könnte allein ein entschiedenes und kräftiges Wort von Seiten des Ministeriums.
Prag, 27. Dezember 1853