Der Statthalter von Tirol, Cajetan Bissingen, berichtet Leo Thun über den Lateinunterricht am Gymnasium in Innsbruck. Dort werde nämlich in der fünften Klasse das Werk des Titus Livius vollständig gelesen. Darunter befänden sich allerdings auch Textstellen, welche Schülern in diesem Alter nicht zugemutet werden sollten. Bissingen fühlt sich daher verpflichtet, Thun den Sachverhalt mitzuteilen. Außerdem werde er die Landesschulbehörde anweisen, die Sache zu untersuchen und den Lehrer zur Rechenschaft zu ziehen.
Hochgeborner Graf!
Ich hatte mir erlaubt Euerer Exzellenz neulich darauf aufmerksam zu machen, daß
gegenwärtig in den Gymnasien auf das pädagogische Moment zu wenig Werth gelegt,
die Erziehung der jungen, großentheils noch dem Knabenalter
angehörigen Leute außer Acht gelegt werde.
Einen traurigen Beleg hiefür
bietet mir eine soeben aus Innsbruck aus verläßlicher
Hand erhaltene Mittheilung.
In der fünften Klasse wird Livius mit den
Schülern vorgenommen, leider aber ohne irgendeine Ausscheidung des Stoffes.
Wahrscheinlich glaubt der betreffende Gymnasiallehrer, sich zu buchstäblich an
die höheren Weisungen haltend, daß ein Classiker nicht verstümmelt werden dürfe,
wodurch die Auffassung seiner besonderen Ausdrucksweise verloren gehen würde.
Und so ward letzthin die in Abschrift hier beiliegende Stelle aus Livius, welche
die Schändung Lucretias durch Sextus Tarquinius in sehr unverblümter Weise
bespricht, wörtlich in der Schule übersetzt!1 Die fünfte
Klasse gehört zwar zum Obergymnasium, aber die Schüler derselben sind nicht viel
mehr als Knaben, deren Unschuld und Reinheit des Herzens jedem Lehrer heilig
sein, deren Phantasie nicht zu früh aufgeregt werden soll. Was nützt es
gewissenhaften Eltern, denen eine religiös sittliche Bildung ihrer Söhne am
Herzen liegt, diese mit aller Sorgfalt zuhause zu überwachen und von bösen
Eindrücken zu bewahren, wenn die Kinder in der öffentlichen Schule Dinge
erfahren, die sie noch lange nicht erfahren sollten. Nicht übel könnte man es
ihnen deuten, wenn sie ihre Söhne von den öffentlichen Studien
zurückzögen.
Ich halte mich für verpflichtet, Euerer Exzellenz hievon
vorläufig Anzeige zu erstatten. Gleichzeitig weise ich aber die
Landesschulbehörde an, die Sache genau zu erheben, den betreffenden
Gymnasiallehrer zur Rechenschaft aufzufordern und mit aller Strenge darauf zu
drängen, daß solcher Skandal in Zukunft nicht mehr stattfinde.
Indem ich mir
vorbehalte, den hierüber von der Landesschulbehörde abverlangten Bericht Euer
Exzellenz nachträglich vorzulegen, bitte ich den erneuerten Ausdruck der
ausgezeichneten Hochachtung zu genehmigen, womit ich geharre
Euer Exzellenz
ergebenster
Bißingen
Wien, den 14. Mai 1852
Aus Titus Livius 57. Kapitel
Auszug
Der Römerkönig, durch den Prachtaufwand bei öffentlichen Bauten erschöpft, wollte das sehr reiche Ardea erobern, um durch dessen Beute die Gemüther der aufgebrachten Bürger zu besänftigen. Nach fehlgeschlagener Erstürmung fing man an es zu belagern. Die Königssöhne vertrieben sich die Langweile mit Gastgelagen und Nachtschwärmereien. Als sie einmal so zechten, fiel die Rede auf die Frauen und da jeder die Seine lobte, so wollte man erfahren, wie weit Lucretia die andern übertreffe. Man ritt also nach Rom. Als sie dort beim ersten Dunkel ankamen, fanden sie die königlichen Schwiegertöchter bei Gastmahl und Lustbarkeit. Von hier nach Collatia gekommen trafen sie aber des Collatiners Tarquinius Gattin Lucretia bei Wollarbeit. Des weiblichen Wettstreites Preis erhielt also Lucretia. Der Gatte als Sieger lud die königlichen Jünglinge höflich ein.
Wörtliche Übersetzung
Hier kam dem Sextus Tarquinius die schnöde Gelüstung an (libido) die Lucretia
mit Gewalt zu schänden (stuprandae, Noth zu züchtigen), sowohl ihre
Schönheit als die bewährte Keuschheit reizten ihn. Doch diesmal kehrten sie
von ihrem nächtlichen Jugendspiele in das Lager zurück.
Kapitel 58. Nach einigen Tagen kam Sextus Tarquinius ohne Wissen
des Collatinno nach Collatia. Hier wurde er, ohne daß man seine Absicht
erkannte, gütig aufgenommen. Als er nach dem Abendessen in das gastliche
Schlafzimmer geführt ward, so kam er, da ihm alles ringsum völlig sicher und
Jedermann fest zu schlafen schien, von Liebe glühend mit gezücktem Schwerte
zur schlafenden Lucretia, drückte die linke Hand dem Weibe auf die Brust und
sagte: „Schweig Lucretia! Ich bin Sextus Tarquinius. Das Mordgewehr ist in
meiner Hand! Du mußt sterben, wenn du einen Laut von dir gibst.“ Da das Weib
vom Schlafe aufgeschreckt keine Hilfe nur den Tod vor Augen sah, so bekannte
Tarquinius seine Liebe, er bat und flehte und durfte wieder und wandte das
weibliche Herz nach allen Seiten hin. Als er sie aber standhaft und selbst
bei der Todesfurcht unerschütterlich sah, so fügte er zur Furcht noch die
Unehre hinzu: Er wolle neben ihre Leiche einen erwürgten Sklaven nackt
hinlegen, damit man sage, sie sei im schimpflichen Ehebruche ermordet
worden. Nachdem durch dieses Schreckmittel die Gelüstung als vermeintliche
Siegerin die unerschütterliche Keuschheit besiegt hatte, und hernach
Tarquinius stolz auf die eroberte Ehre des Weibes abgereist war, schickte
Lucretia betrübt über ein solches Unglück einen Boten zugleich an den Vater
nach Rom und nach Ardea zum Gatten. (Sie kommen mit noch andern an und
treffen Lucretia im Schlafzimmer betrübt sitzen.) Bei der Ankunft der
Ihrigen brach sie in Thränen aus und auf die Frage des Mannes, ob sie sich
nicht wohl befinde?, sagte sie: „O nein! Wie kann sich ein Weib wohl
befinden, wenn sie die Ehre der Keuschheit verloren hat! Mein Collatinno!
Die Spuren eines fremden Mannes sind in deinem Bette. Übrigens ist nur der
Körper geschändet, die Seele ist unschuldig. Der Tod wird meine Zeuge sein.
Aber gebt mir Hand und Wort darauf, daß es dem Ehebrecher nicht ungestraft
hingehen soll. Sextus Tarquinius ist es, der als Feind nicht als Gastfreund
in der vorigen Nacht mit Gewalt bewaffnet, eine mir und – wenn ihr Männer
seid – ihm verderbenbringende Freude von hier mit hinweg genommen
hat.“
Nachdem sie die Ihrigen getröstet und entschuldiget hatten wegen
der Gewaltthat, stieß sie sich einen verborgenen Dolch ins Herz und auf die
Wunde vorsinkend fiel sie sterbend nieder.