Rudolf Eitelberger an Leo Thun
o. O. [Wien], 26. November 1854
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Regest

Der Kunsthistoriker Rudolf Eitelberger weist Leo Thun auf die soeben erschienene Geschichte der Philosophie von Ludwig Strümpell hin. Thun hatte sich mehrfach bei Eitelberger über aktuelle Entwicklungen in der Philosophie erkundigt. Strümpell ist derzeit Professor in Dorpat, seine aktuelle Situation wäre aber verbesserungswürdig. Strümpells Geschichte der Philosophie – zumal der erste Band – ist aus der Sicht von Eitelberger die beste seiner Art in den letzten zwei Jahrzehnten. Er vergleicht das Werk mit den Arbeiten von Christian Brandis und Eduard Zeller und lobt dabei besonders den geschickten Aufbau von Strümpells Werk und dessen selbstständige Erarbeitung. Auch Martin Deutinger komme nicht an Strümpell heran. Strümpell ist Protestant, aber Anhänger von Herbart, dessen Schule bisher nie verdächtigt worden war, politisch gefährlich zu wirken. Eitelberger will in den Blättern für Literatur und Kunst noch im Winter ausführlich über die schlechte Situation der Philosophie in Österreich berichten und dabei umgekehrt auch die Ursachen für die Blüte dieses Fachs in Deutschland erörtern. Er hofft damit auch im Sinne von Thun zu handeln.

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Edierter Text

Euer Excellenz!

Euer Excellenz geruthen mehr als einmal in mündlichem Verkehre sich über den gegenwärtigen Stand der Geschichte der Philosophie zu erkundigen, daß ich nicht umhin kann, die Aufmerksamkeit auf das eben erschienene Werk eines Mannes hinzuweisen, der schon aus dem Grund nicht unbeachtet bleiben dürfte, weil er in Verhältnissen lebt, die zu verändern er leicht gestimmt werden könnte.
Das Werk trägt den Titel: „Die Geschichte der griechischen Philosophie etc., entworfen von Lud[wig] Strümpell ordentlicher Prof. der Philosophie an der Universität zu Dorpat“. Der erste mir eben vorliegende Band behandelt die Geschichte der theoretischen Philosophie bei den Griechen (424 S. Leipzig Voß 1854.)1 mit einer Gründlichkeit und Kenntnis der Quellen, wie sie bei wenigen Werken der neueren Zeit in gleich hohem Grade zu finden ist.
Ich glaube nicht, daß mir in den letzten zwei Jahrzehnten Ein in dieses Gebiet einschlagendes Werk der deutschen Literatur entgangen ist; aber ich muß gestehen, daß mir, selbst die so bedeutenden Arbeiten von dem Bonner Prof. Brandis und dem Tübinger Zeller nicht ausgenommen, keines vorgekommen, das so selbständig gearbeitet, mit sovieler Geschicklichkeit gemacht ist, als das Strümpells. Dem Werk von Brandis (Handbuch der Geschichte der griechisch-römischen Philosophie 3 Bde. Berlin 1835–1853)2 ist Strümpell an Schärfe des Urtheils weit überlegen. Zeller (Die Philosophie der Griechen. 3 Bde. Tübingen 1844–1853)3 ist in mancher Hinsicht geistvoller, gehört aber einer Schule an, welche den äußersten Richtungen des Protestantismus entsprungen ist.
Strümpell ist ebenfalls Protestant, aber Anhänger der Herbart’schen Schule, die trotz ihrer mehr als 30jahrgen Wirksamkeit nirgend mit den bestehenden Konfessionen oder politischen Staatsartungen in Konflikt gekommen.
Mit den genannten Werken läßt sich Deutinger’s Leistung von wissenschaftlichem Gesichtspunkte aus, auch nicht im entferntesten vergleichen; seine Tendenz ist lobenswerth, aber sein Wissen mehr als mangelhaft.
Die „österreichischen Blätter für Literatur und Kunst“ werden wohl noch im Laufe dieses Winters ausführlich auf den Stand der Geschichte der Philosophie in Deutschland und in Österreich zurückkommen, und die Ursachen der Blüthe dieser Wissenschaft jenseits der österreichischen Gränze und die ihres fast gänzlichen Darniederliegens in Österreich erörtern; letzteres allerdings mit Schonung von Zuständen und Personen, da es kaum passend sein dürfte, mehr zu thun, als die Wahrheit nur anzudeuten. Nichts destoweniger erlaubte ich mir, bei der Wärme, mit der Euer Excellenz das Studium dieser Wissenschaft den Studierenden der Rechte empfalen und sich über den Stand derselben erkundigten, auf die neueste, sehr bedeutende Erscheinung des Stümpell’schen Werkes hindeuten zu können. Dürfte ich hoffen, mit diesen Zeilen Dero Wunsche nicht entgegen gehandelt zu haben, so wäre meine Absicht erfüllt.
Genehmigen den Ausdruck tiefster Verehrung
Euer Excellenz ergebenster

R. v. Eitelberger Professor

den 26. November 1854