Leo Thun äußert sich anlässlich der Promotion sub auspiciis des Dr. Julius Fierlinger in einer Rede über das österreichische Rechtsstudium und kritisiert dabei das allzu lange Festhalten am ABGB. Während in Deutschland und Frankreich die Jurisprudenz neue Wege beschritten habe, sei Österreich in seiner Rechtsentwicklung zurückgeblieben. In Österreich sei es verabsäumt worden, das ABGB kritisch zu beleuchten und wissenschaftlich zu studieren. Die juristische Ausbildung sei durch Konzentration auf das Naturrecht beschränkt geblieben. Römisches und Deutsches Recht, als eine der wichtigsten Grundsäulen der österreichischen Gesetzgebung, seien vernachlässigt worden. Allerdings habe das Jahr 1848 zu einem Umdenken geführt. Nun seien den österreichischen Juristen keine Grenzen mehr auferlegt und sie könnten Anteil an den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen nehmen.
Abgedruckt in: Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962, S. 304–306.
Rede bei der unter den Auspizien Seiner k.k. Majestät abgehaltenen juridischen Disputation des Julius Fierlinger am 11. May [1]852
Mit wahrer Freude habe ich dem festlichen Akte beigewohnt, durch welchen Ihr
mühevolles Streben, in die Zahl der Doktoren dieser altehrwürdigen Hochschule aufgenommen zu werden, belohnt
worden ist.
Ich habe ihm beigewohnt im allerhöchsten Auftrage unseres
Herrn und Kaisers und überreiche
Ihnen als einen Beweis der Theilnahme Seiner
Majestät an Ihren wissenschaftlichen Erfolgen und zum Andenken an
dieselbe dieses Zeichen der allerhöchsten Gnade. Empfangen Sie zugleich meinen
herzlichsten Glückwunsch. Ich füge ihm den aufrichtigen Wunsch bei, daß ich bald
Zeuge Ihrer weiteren Fortschritte auf der Bahn sein möge, in welche Sie hiemit
eintreten.
Ich habe vernommen, daß Sie dem Dienste der Wissenschaft treu
bleiben und nach einem Lehramte des bürgerlichen Rechtes streben wollen und
freue mich herzlich dieses Entschlußes.
Wir leben in einer Periode der
österreichischen Geschichte, in welcher diese Aufgabe eine schönere und größere
geworden ist, als sie seit lange gewesen. Das a. g. b. G. B., dieses mit Recht
berühmteste Rechtskompendium der neueren Zeit, ist gleichwol wie jedes
menschliche Werk nicht frei von Mängeln. Es ist hervorgewachsen aus dem Boden
einer philosophischen Schule, die damals fast allgemein herrschte, über die aber
seitdem die Wissenschaft hinweggeschritten ist; aus einer Schule, die das
bürgerliche Recht nicht sowol als die auf höhere sittliche Gesetze gegründete
Ordnung, geschichtlich gegebener thatsächlicher Verhältnisse, sondern vielmehr
als das Produkt der Spekulation des menschlichen Verstandes betrachtete. Diese
Auffassung hat die österreichische Jurisprudenz losgerissen von ihren
historischen Grundlagen. Nicht nur hat das a. g. b. G. B. selbst sich den
Anschein gegeben, als ob es jede Rücksicht auf die Rechtsgeschichte bei Seite
setze, indem es sogar als Subsidiarquelle der richterlichen Entscheidung nicht
jene Rechtssisteme anerkennt, aus denen der Innhalt seiner §§ entnommen ist,
sondern gleichzeitig ist auch das Rechtsstudium in Österreich nur auf die positiven Gesetze und auf das trügerische
Nebelbild des sogenannten Naturrechtes beschränkt worden. Das römische Recht,
diese unerschöpfliche Fundgrube juridischen Scharfsinnes, der die wichtigsten
Begriffe des österreichischen Rechtes entlehnt sind, wurde in dem
österreichischen Studienplane im kümmerlichsten Ausmaße nur einstweilen noch
geduldet, für so lange, als es noch bei Entscheidung älterer Prozesse faktische
Geltung haben werde. Das germanische Recht, eine andere wichtige Grundlage der
österreichischen Gesetzgebung, wurde gänzlich beseitigt. Von den einheimischen
Elementen, die das a. g. b. G. B. in sich aufnahm, wurde keine Spur
bewahrt.
Diese Mißgriffe konnten nicht ohne Nachtheil für die
Rechtswissenschaft in Österreich bleiben.
Während in Deutschland durch den großen Rechtslehrer
Savigny und andere eine
mächtige Schule begründet und die Rechtsgelehrsamkeit wahrhaft gefördert wurde,
während diese Schule auch in Frankreich eine tiefere
Bearbeitung des dortigen Rechtes hervorrief, mußte die juristische Litteratur
Österreichs in bedauerlicher Weise
zurück bleiben. Seit des berühmten Pratobevera Materialien1
erschienen sind, hat sie fast nichts aufzuweisen als Handbücher für den
praktischen Gebrauch. Wir sind aufgewachsen in blinder Anbethung des a. g. b. G.
B., wir lernten es nicht betrachten als das, was es ist und allein sein konnte,
ein vortreffliches Kompendium, ein sehr gelungener Anfang zu einer gemeinsamen
österreichischen Rechtsentwicklung, sondern als ein juridisches Evangelium.
Statt es kritisch zu beleuchten, seine Genesis und seine Wirkungen auf die
heimischen Rechtszustände zu studiren und so das begonnene Werk österreichischer
Gesetzgebung wissenschaftlich weiter zu fördern, haben wir uns vor dem a. g. b.
G. B. wie vor einem Götzen in stummer Verehrung niedergeworfen und eine
Generation nach der andern in ihrer juridischen Bildung beschränkt auf die 1500
§§ und auf die „natürlichen Rechtsbegriffe“, die der Verstand jedes einzelnen
nach seinem Belieben gestaltet.
Aus diesem Zustande des juridischen Schlafes
hat uns das verhängnisvolle Jahr [1]848 aufgerüttelt. Nachdem es mehr als einen
§ gewaltsam umgestoßen, nachdem es uns thatsächlich bewiesen hat, wie nahe die
Gefahr liegt, durch die Berufung auf hohle Frasen des sogenannten Naturrechtes
zu den größten Ungerechtigkeiten verleitet zu werden, haben sich aus jener Zeit
allgemeiner Verwirrung Ereignisse entwickelt, die auch unserer Jurisprudenz
nothwendig neue Richtungen geben müssen. Das religiöse Bewußtsein ist in Europa
wieder lebendig geworden und fordert seinen Antheil an der Ordnung von
Familienverhältnissen, die bei allen gesitteten Völkern auf religiöser Grundlage
beruhten und nur auf ihr beruhen können. Dem Einfluße unserer Gesetze öffnen
sich weiter Länder, deren Zustände von den unserigen größtentheils sehr
verschieden sind. Ungarn, wo sich die Rechtsbegriffe nicht
auf Grundlage des römischen Rechtes entwickelt haben, Siebenbürgen, wo die verschiedenartigsten
Rechtssysteme neben einander Geltung haben, die südslavischen Länder, wo noch
Generationen in patriarchalischer Gemeinschaft die Autorität eines
Familienhauptes anerkennen. Der Lehrer des bürgerlichen Rechtes in Österreich wird künftig auch für alle diese
Länder Richter, Advokaten und Rechtslehrer zu bilden haben. In der That eine
Anregung, tiefer einzudringen in das Wesen der Rechtsinstitute und der
Rechtsbegriffe, wie sie bisher nicht dagewesen ist.
Und während so die
Aufgabe des österreichischen Juristen in hohem Grade an Wichtigkeit und Intresse
gewinnt, ist zugleich seine Stellung auf der Lehrkanzel und als Schriftsteller
eine ungleich freiere und lohnendere geworden. Seiner Forschung und seiner
Wirksamkeit sind nicht mehr enge Gränzen vorgezeichnet, sondern er ist berufen,
die Wissenschaft zu pflegen, die ewig unerschöpfliche und unvollendete.
Die
Liebe zu ihr erfülle Ihre Seele und gebe Ihnen Muth und Ausdauer zu
unermüdlicher Fortsetzung Ihrer Studien und Ihrer Leistungen auf der Bahn, die
Sie ehrenvoll betreten haben.