Abschrift eines Briefes von Leo Thun an Agenor Goluchowski
Hetzendorf, 25. bis 29. Juli 1859
|

Regest

Leo Thun teilt Agenor Goluchowski, Statthalter von Galizien, mit, dass die kyrillischen Schriftzeichen in Galizien vorerst nicht abgeschafft werden. Thun erklärt diese Entscheidung, die gegen den Ratschlag von Goluchowski gefallen ist, in der Folge ausführlich und bittet den Statthalter um Verständnis dafür. Als wesentlichen Grund für die Entscheidung führt Thun an, dass eine oktroyierte Abschaffung der kyrillischen Schriftzeichen die Stimmung gegen Österreich nur noch weiter verschärft hätte. Insbesondere der Klerus, der bereits jetzt vielfach einen Anschluss an Russland wünsche, hätte die Maßnahme bekämpft. Thun glaubt daher, dass die Regierung Schritte unternehmen müsse, um den Klerus für sich zu gewinnen. In diesem Sinn bittet er Goluchowski auch, sein allgemeines Misstrauen gegenüber dem Klerus zu mäßigen. Dabei bezieht er sich auch auf den Fall des Lemberger Weihbischofs Litwinovicz, den Goluchowski, aus Thuns Sicht zu Unrecht, wegen antiösterreichischer Ansichten diffamiert hatte. Thun verteidigt außerdem das Konkordat, dem Goluchowski offenbar ebenfalls skeptisch gegenübersteht. Am Ende bittet Thun nochmals um Nachsicht für seine Kritik und um Verständnis für seine Politik.
In der ersten Beilage schildert ein nicht genannter Schreiber die Stimmung in Galizien. Dabei geht er besonders auf den Plan ein, die kyrillischen Buchstaben der ruthenischen Sprache durch lateinische zu ersetzen. Dieser Plan werde besonders vom Statthalter Goluchowski eifrig verfolgt. Der Haustheologe der Familie Goluchowski habe hierzu auch ein Manifest verfasst, das derzeit eifrig diskutiert werde. Die Ruthenen seien unterdessen besorgt, dass die Regierung sie nicht gegenüber der polnischen Mehrheit schütze.
Die zweite Beilage umfasst Notizen Thuns zu einzelnen Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht hinsichtlich der ruthenischen Gymnasien.
Die dritte Beilage beinhaltet Auszüge aus Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht von den Jahren 1857 bis 1860 in Betreff der ruthenischen Orthographie.
Die vierte Beilage enthält einen Auszug aus den Verhandlungen der Beratungskommission zur ruthenischen Sprachenfrage.
Die letzte Beilage befasst sich mit der Situation der ruthenischen Sprache in Galizien. Dabei wird die Stellung des Ruthenischen zu Russisch und Kirchenslawisch behandelt und auch die verschiedenen Versuche der Angleichung an das bzw. die Übernahme des Russischen besprochen. Außerdem wird konstatiert, dass die Entwicklung einer eigenen ruthenischen Literatur in den letzten Jahrzehnten einen kurzen Aufschwung erlebt hatte, nunmehr aber ein Stillstand eingetreten sei. Die Förderung der Sprache seitens des Ministeriums wäre daher notwendig.

Anmerkungen zum Dokument

Schlagworte

Edierter Text

An Graf Goluchowski1

Hetzendorf, 25. Juli 1859

Werthester Freund!

Ich bin Ihnen wahrhaft dankbar, daß Sie sich brieflich gegen mich ausgesprochen haben, weil es mir die Möglichkeit gibt es auch mit voller Offenheit zu thun und doch hoffen zu dürfen, daß unter der Offenlegung wesentlich abweichender Auffaßung in dem was unseres Amtes ist, wenigstens meine freundschaftlichen Beziehungen zu Ihnen, die mir lieb und werth sind, nicht leiden werden. Aus diesem Präambulum werden Sie ersehen, daß ich in der anhängigen Angelegenheit gegen Ihre Meinung entschieden habe. Soeben habe ich die verschiedenen, damit zusammenhängenden Konzepte approbirt und adjustirt und theilweise selbst geschrieben, wahrlich nicht weil ich widernatürliche Bestrebungen unter den Ruthenen in Schutz nehmen oder deren Gefährlichkeit nicht sehen will, sondern weil ich fest überzeugt bin, daß die imperative Veränderung der Schreibweise sie nicht beseitigen, sondern nur steigern würde. Sie werden mir das Zeugnis geben, daß ich in den Versuch aufrichtig eingegangen bin, allerdings aber immer nur in der Erwartung und unter der Voraussetzung, daß es gelingen werde, ihn auf dem Wege der Überzeugung von der Zweckmäßigkeit zur Geltung zu bringen. Der Verlauf der Verhandlung hat diese Überzeugung bei andern nicht erzeugt und in mir selbst mehr geschwächt als gestärkt. Damit will ich sagen: vom ruthenischen Standpunkte aus betrachtet, erscheint mir die Frage der Zweckmäßigkeit mindestens zweifelhaft. Vom österreichischen Standpunkte wäre sicher nichts dagegen einzuwenden, wenn die Ruthenen zur lateinischen Schreibung übergingen, sie aber dazu zwingen zu wollen, sich deshalb mit ihrem Klerus in einen höchst aufregenden Kampf einzulassen, noch viel sicherer ein gewaltiger Mißgriff; der Versuch könnte überdies unmöglich gelingen. Sie sind der Meinung: "Das Volk wünscht es, nur die Sonderpartei ist dagegen." Aber zu dieser "Sonderpartei" rechnen Sie die beiden Ordinariate und Konsistorien und wie Sie mir schreiben "die meisten griechisch-katholischen Geistlichen, weil ihnen ein politischer und religiöser Anschluß an Rußland so ausnehmend zusagt". Nun sind aber nach österreichischer Schulverfassung die Schulen in den Händen der Ordinariate und der Geistlichkeit; was sie mit aller Entschiedenheit nicht wollen, ist also, ohne diese Verfassung zu ändern, nicht zu erreichen. Der Versuch, die lateinische Schrift imperativ durchzusetzen, würde das ganze ruthenische Schulwesen in völlige Verwirrung bringen; und die Wahrheit, daß es an und für sich doch etwas gleichgültiges ist, ob mit diesen oder jenen Buchstaben geschrieben wird; und daß es doch 1000mal besser ist die Leute schreiben zu lassen, wie sie es von jeher gewohnt sind, als deshalb zu Gott weiß was für Maßregeln gezwungen zu werden, ist so einleuchtend und tritt daher allen denen, die von dem philologischen Zusammenhang der ganzen Geschichte gar nichts begreifen, noch um so schreiender vor die Augen, daß ganz zuverläßig alle meine jetzigen, wie alle denkbaren künftigen Kollegen und jeder Kaiser von Oesterreich dem Statthalter und dem Minister, der solches unternehmen würde, sehr bald das Handwerk legen würden.
Daraus wollen Sie ersehen, daß ich aus eigener Überzeugung und nicht etwa blos unter dem Einfluße von dem a. oder b. die Idee der Einführung lateinischer Lettern fallen lassen muß, so leid es mir thut, dadurch Ihrer Ansicht entgegenzuhandeln und Sie einigermaßen zu kompromittieren. Noch viel schwereren Kummer macht es mir aber zur klaren Einsicht gelangt zu sein, daß diese Meinungsverschiedenheit nur die Folge einer viel allgemeineren und tiefer liegenden ist. Sie perhoresziren den ruthenischen Klerus im Allgemeinen und Sie sind – wie Sie dem Jireček offen erklärt haben – Josephiner. Das treibt Sie nothwendig in eine Bahn, die nach meiner Überzeugung eine erfolgreiche heilsame Regierung Galiziens unmöglich macht oder vielmehr, es hat Sie längst in diese Bahn getrieben und hat Sie den Ruthenen gegenüber in eine Stellung gebracht, aus der ich keinen Ausweg mehr sehe.
Ich bin weit davon entfernt Ihre Gegner unter dem ruthenischen Klerus weiß waschen zu wollen. Es sind darunter leidenschaftliche hochfahrende Parteimänner; die – gelinde gesprochen – Unregelmäßigkeiten, die im Jahre 1848 ungerügt blieben, haben dazu beigetragen sie unfügsam und schwer zu behandeln zu machen. Ich glaube es auch – obwohl mir vollgiltige Beweise noch nicht vorgelegen sind – daß sich unter der ruthenischen Geistlichkeit manche befinden mögen, die zum Schisma und zur russischen Regierung hinneigen, daß Sie aber wiederholt Vorwürfe, die gegen einzelne gerecht sein mögen, generalisiren und dem ruthenischen Klerus im Allgemeinen machen, ist – verzeihen Sie mir meine offene Sprache – sehr ungerecht und eben deshalb außerordentlich verletzend. Und wenn man Leute, die auf einer niederen Stufe geselliger Bildung stehen, ungerecht verletzt, so kann es nicht fehlen, daß ihre Fehler sich steigern. Die Verhältnisse der Ruthenen den Polen gegenüber müssen sie dazu treiben, daß sie entweder auf die österreichische Regierung und dann auch auf Rom oder auf die russische Regierung ihre Zuversicht für die Zukunft setzen. Mir scheint es in allerhand Thatsachen begründet, daß Hinneigung nach Rußland – abgesehen von einzelnen verdrehten Köpfen, deren es überall gibt – anders als aus Verzweiflung nicht entstehen könnte und in einem irgend Gefahr drohenden Maaße nicht vorhanden sei. Sind Sie aber auch der entgegengesetzten Meinung, so folgt doch nur daraus, daß die österreichische Regierung um so mehr bemüht sein sollte, durch Wohlwollen und Vertrauen die Gemüther zu gewinnen und nicht auf bloße Verdachtsgründe hin die Leute von sich abzustoßen. Gegen den Einzelnen, der sich durch solche notorische Thatsachen kompromittirt hat, daß niemand ihn in Schutz nehmen kann, werde mit Strenge vorgegangen; wer sich aber bereitwillig zeigt, mit der Regierung und mit der Kirche zu halten (wie z. B. L. Litwinovicz) dem werde Vertrauen geschenkt und selbst denen, die verdächtig scheinen mögen, werde der Verdacht nicht gezeigt, in so lange er nicht in bewiesenen Vorwurf übergeht. Namentlich die kirchliche Gesinnung zu verdächtigen ist für die Regierung eine äußerst mißliche Sache; das überlasse sie doch lieber der kirchlichen Autorität, die sich schon selbst vorzusehen wissen wird. Das schließt nicht aus offene Augen zu haben und was man zu sehen glaubt am rechten Ort mitzutheilen; aber den Betheiligten gegenüber sich selbst das Urtheil darüber anzumaßen steht der weltlichen Gewalt nicht zu und frommt ihr nicht.
Die große politische Bedeutung des Konkordates – abgesehen von der moralischen Bedeutung der Verwerfung der mit der christlichen Wahrheit unvereinbaren und die Kirche untergrabenden febroninischen Grundsätze – liegt darin, daß es denjenigen, denen der Herr die Regierung seiner Kirche übertragen hat, es möglich macht wieder aufrichtig an die österreichische Regierung sich anzuschließen und ihren moralischen Einfluß auf das Volk für sie geltend zu machen. Daß die katholische Geistlichkeit einen großen Einfluß auf die Gläubigen habe, ist in der Ordnung; er wird im Verlaufe der Dinge immer der Sache des Rechts förderlich sein.
Es ist eines der naturgemäßen und der einflußreichsten konservativen Elemente im sozialen Organismus; darum wehe der Regierung, die ihn zu zerstören versucht. Er kann in der Hand sündiger Menschen, die wir alle miteinander sind, ausarten; dann wird man recht thun der Ausartung entgegenzutreten, – aber niemals die Wurzel angreifen. – Sind Sie mit diesen Ansichten nicht einverstanden, so bedenken Sie gleichwohl, daß nicht ich das Konkordat geschlossen habe – sondern der Kaiser und daß es seinem entschiedenen Willen entgegengehandelt ist, wenn nicht im Geiste desselben vorgegangen wird.
Ich kann leider nicht mehr daran zweifeln, daß Sie es sich wirklich zur Aufgabe gestellt haben, das ruthenische Volk dem Einfluße seiner Christlichkeit zu entziehen und ebenso den Einfluß der Ordinariate auf die Geistlichkeit zu lähmen, das Ansehen der Ordinariate und der Geistlichkeit nicht zu heben, sondern zu schwächen. Ich halte das für einen unseligen Mißgriff, der keinen andern bleibenden Erfolg haben kann als einen destruktiven.
Vielleicht lassen Sie meine Argumentation – wenn es schon sein muß – gelten für die lateinische Kirche, aber nicht für die unirte. Aber der Kaiser und der Papst haben mit vollem Bewußtsein diese wie jene dabei vor Augen gehabt und uns steht es daher nicht zu einen Unterschied zu machen. Über den Punkt hätte ich noch vieles zu sagen, was aber, so lange das Gesagte nicht auf Ihre Überzeugung wirkt, ohnehin vergeblich wäre und überdies zu weit führen würde.
Mir war es ein Bedürfnis mich offen gegen Sie auszusprechen, wenigstens werden Sie es hoffentlich mir dann minder verargen und nicht davon überrascht sein, wenn ich, wie es geschehen muß, in mehr als einer Angelegenheit so wie in der Frage der Schrift, Entscheidungen fälle oder allerhöchsten Ortes befürworte, die Ihren Anträgen zuwider und Ihnen außerordentlich unangenehm sind.
Können Sie unter diesen Umständen in meinen Ideengang noch eingehen, so bitte ich Sie auf das Angelegentlichste, suchen Sie mit Litwinovicz aufrichtigen Frieden zu machen und schenken Sie ihm Vertrauen. Über seinen moralischen Werth wird der liebe Gott richten; daß er aber thatsächlich der katholischen Kirche und Oesterreich ergeben ist, daß er überdies die üblen Seiten seines Kapitels und seines Klerus sehr wohl sieht, daß er bestrebt ist sich, wie es einem Bischofe geziemt, nicht von jenem beherrschen zu lassen, dessen bin ich vollkommen sicher. Dazu bedarf er aber Unterstützung. Ich verlange von Ihnen nicht mehr als eine negative; ein plötzlicher Anschlag würde die Schwierigkeiten wahrscheinlich nur vermehren. Aber geben Sie es auf gegen ihn Verdacht zu zeigen, dem Glauben Nahrung zu geben, daß bei Ihnen mißliebig wird, wer sich ihm anschließt etc.
Es ist mir leid, daß dieser Brief erst nach meiner Entscheidung in Ihre Hände gelangt; es war mir aber in diesen Tagen unmöglich ihn zu vollenden.

Aufrichtig der Ihrige

Thun

Geschlossen den 29. Juli

Auszug aus einem Briefe aus Lemberg vom 25. Mai 1859

Gleich am ersten Tage als das Machwerk des J[ireček] 2mittelst Präsidialschreibens uns allen und auch dem Direktor Janowski zugstellt wurde, berief zuerst Czerkawski, dann auch Graf Gol[uchowski] den Janowski zu sich; ersterer redete ihm auf das dringendste zu, diese Angelegenheit, welche bereits die entschiedenste Regierungsmaßregel sey, nach aller Kraft zu fördern, am allerwenigsten aber sich beikommend zu lassen selbe zu bekämpfen; dabei würde ihm ausdrücklich und zu wiederholten Malen seine Stellung als Staatsbeamter unter die Nase gerieben. Jan[owski] gab darauf eine ruhige und seines bewährten Characters vollkommen würdige Antwort, was dann zur Folge hatte, daß der Herr Graf sich selbst herbeiließ ihn zu belehren, daß er als Beamter nur die Interessen der Regierung zu wahren habe, sich aber am allerwenigsten beikommen lassen dürfe, irgend einem andern Einfluße nachzukommen. Nachdem ihm solches in deutscher Sprache gesagt worden, hat der Herr Graf noch auf polnisch mehrere Witze gegen die Ultras vom St. Georg ("ultrasy świętojurskie") (St. Georg ist die griechisch-katholische Domkirche in Lemberg) losgelassen und die Erwartung ausgesprochen, daß Jan[owski] sich hüthen werde eben jetzt in irgend eine Berührung mit ihnen zu treten, "bo ja wiem ze tam warzy sir znow stawna "Rada ruska" (denn ich weiß, daß dort wieder der famose "ruthenische Rath" kocht).
Czerkawski ist wüthend; ... man erzählt, daß er sich wie wahnsinnig geberdet, beständig in den Klassen der hiesigen Gymnasien herumlauft, die ruthenischen Gymnasiasten ohne alle Ursache bald lobhudelt, bald wüthend anfällt, besonders aber die ruthenischen Lehrer und gar schon unsere Katecheten auf's Korn genommen hat; letzteren hat er ausdrücklich gedroht, daß er sie alle "wegblasen" werde.
Nachstehende wohl verbürgte Notizen dürften sowohl Ihnen als auch dort oben nicht uninteressant sein.
1. Es ist hervorgekommen und kann durch Zeugen konstatirt werden, daß der Jesuit Baworowski – (ohne einen Jesuiten geht es nun einmal in den Schicksalsschlägen für uns nicht ab) – bekanntlich ein Onkel der Gräfin Gol[uchowski] und Haustheolog des Grafen in allen Streichen gegen uns und unseren Ritus – ein dickleibiges Manuskript über die Ruthenen, ihren Ritus und – notabene – über die ruthenische Sprache sammt dem Vorschlage zur Umstaltung der letztern mittelst des lateinischen Alphabets noch im Sept. vorigen Jahres in dem hiesigen Ossoliński'schen Institute von einem gewissen Kamiński – meinem verrufenen Erz-Revolutionär und Mitsudler an dem Schandblatte "Kuryer" vom Jahr 1848 – hat mundiren lassen, wobei Czerkawski tagtäglich die Arbeit beaufsichtigend, korrigirend und betreibend erschienen war, besonders aber sich geschäftig zeigte, um dieses Machwerk mit Beilagen auszustatten, nach denen er überall, hauptsächlich aber in den Basilianer Klöstern zu Lemberg, Buczacz und Krechów herumgespurt und jeden Wisch konfiscirt hat, den nur irgend ein simpler Basilianer in ruthenischer Sprache mit polnischen Buchstaben niedergeschmiert hat. Das Manuskript des Baworowski wurde in dem Ossoliński'schen Institute von den Koryphäen des radikalsten Polenthums mehreren Berathungen und vielfachen Korrekturen unterworfen und mußte zweimal abgeschrieben werden.
2. Graf Gol[uchowski] machte die krampfhaftesten Anstrengungen eine Loyalitätsadresse des polnischen Adels zu Stande zu bringen. Anfangs Mai wurde Graf Rusocki, ein Busenfreund, beauftragt die Sache in den hiesigen Adels-Casino anzuregen, fiel aber damit so total durch, daß er, der sonst Lemberg nie verläßt, sich schleunigst auf's Land flüchten mußte. Graf Gol[uchowski] berief nun einige Adelige zu sich und hielt ihnen einen Sermon, worin folgender Passus – übrigens ganz verbürgt – besonders betont wurde: "Upokorzyłem największych wrogów waszych i sprawy polskiej w Kraju; daliście mi słowo, iż moje dążności nietylko niczem paraliżować nie będziecie, coby moje stanowisko w obec rządu (!) utrudniało, ale owszem wspierać chcecie zupełną harmoniją z rządem (!) dalsze kroki (!), a teraz, gdy właśnie najważniejszy krok uczynić pozostaje, urojiliście sobie niepotrzebną i zgubną demonstracyę." (Ich habe eure und der polnischen Sache im Lande größten Feinde gedemüthiget; ihr habt mir euer Wort gegeben, daß ihr meine Tendenzen nicht nur durch Nichts paralysiren werdet, was meine Stellung der Regierung gegenüber (!) erschweren würde, sondern vielmehr in voller Übereinstimmung mit der Regierung (!) meine weiteren Schritte unterstützen wollet; und jetzt, wo eben der wichtigste Schritt zu thun noch übrig bleibt, fällt euch ein eine unnütze und verderbliche Demonstration zu machen.")
Und doch half auch dieses nicht; die Adresse wurde unter den bittersten Ausfällen gegen die Regierung abgelehnt; die Polen verließen Lemberg und wallfahrten nun scharenweise nach Dresden , wo, wie man hier allgemein spricht, eine Hauptberathung über die "polnische Sache" unter den jetzigen Umständen stattfinden soll. Also so weit sind wir gekommen, daß wir an die Polen förmlich verschachert werden!
3. Man scheint dort oben eine Aufregung unter den Ruthenen für wenig wahrscheinlich zu halten und Graf Gol[uchowski] scheint darüber die beruhigendste Bürgschaft geliefert zu haben. Nun habe ich Ihnen letzthin schon geschrieben, daß die Kunde des Gewaltstreiches sich mit Blitzesschnelle allenthalben verbreitet und eine unsägliche Bestürzung in allen Schichten unserer Bevölkerung verursacht hat; die polnische Partei breitet diese Stimmung besonders unter dem Landvolke aus und man berichtet mir durch den Pfarrer Izak aus Koniuchi, daß im Brzezaner Kreise [Bezirk Brzeżany] eine furchtbare Aufregung der Bauern gegen unsere Geistlichkeit sich kund gebe und das Kreisamt zu außerordentlichen Maßregeln zum Schutze der persönlichen Sicherheit einiger ruthenischer Pfarrer veranlaßt habe. ...
Dieser Tage war der Klostervorsteher Koßak [Kossak] aus Krechów (5 Meilen von Lemberg im Zolkiewer Kreis [Bezirk Żółkiew]) eigends deswegen nach Lemberg gekommen, um sich – was er auch gethan hat – hier im Consistorium zu erkundigen, was denn gegen die Ruthenen losgegangen sei? Das große und schöne Kloster Krechów ist ein weit berühmter Wallfahrtsort wegen dem Wunderbilde des hl. Nicolaus; am 21. Mai, als dem Feste dieses Heiligen, pflegen daselbst an zehntausend Menschen aus allen Gegenden zusammenzuströmen. ... Heuer war die Versammlung – womöglich – zahlreicher denn je. Und nun berichtet Koßak, daß zuerst der dort anwesende Klerus in einer namenlosen Bestürzung durch zwei Tage von nichts anderem sprach und an nichts anderes zu denken schien, als nur an das Attentat, von welchem übrigens die abentheuerlichsten Versionen von den Polen verbreitet wurden. Selbst die von dem Dechant Kalitowski nach einer sichern Notiz aus Przemysl gegebene Aufklärung, um was es sich eigentlich handelt, vermochte die aufgeregten Gemüther des Klerus nicht zu beschwichtigen; im Gegentheile machte sich niemand darüber Illusionen, daß durch diesen Streich die Axt an die Wurzel unseres Volkslebens gelegt wird und daß dem Gelingen dieses Streiches eine Reihe anderer Gewaltstreiche auf alle Zweige unserer Existenz gewiß nicht ausbleiben werden. Aber noch mehr! Bauern und Stadtler drängten sich in die Sakristei und in die Klosterzellen zu den Mönchen und fragten ängstlich, was denn gegen die Ruthenen von Wien aus angeordnet sei? Man glaubt unter dem Volke an nichts Geringeres als an das gänzliche Preisgeben der Ruthenen an die Polen, an die Wiedereinführung der polnischen Oberherrschaft, Mandatare, Robot u. dgl. Viele weinten bitterlich und sprachen die Befürchtung aus, daß sie wahrscheinlich niemals mehr den hl. Nicolaus in Krechów werden verehren können, denn ein polnischer Lump, der sich unter die Menschenmenge eingeschlichen hatte, möglicherweise ein polnischer Emissair, habe behauptet, daß der Kaiser alle ruthenischen Klöster und Kirchen aufheben werde u. dgl. Daß übrigens sowohl ich als die Domherrn mit mündlichen und schriftlichen Anfragen über das Verhängnis von Seite des Klerus förmlich bestürmt werden, ist eine selbstverständliche Thatsache. So stehen wir. Wenn dies Alles nicht ein planmäßiges Attentat auf die Ruhe dieser Provinz ist, so weiß ich nichts weniger zu sagen. Videant superi! Das kleine herabgeschmo[lzene] Häuflein der sogenannten Gutgesinnten unter den Beamten ist wie gelähmt und spricht sich in abgebrochenen Sätzen gerade so aus wie zur Zeit der polnischen Klubtyrannei von 1848, als der infame Dobrźanźki [Dobrjanský] sich zum Haupte dieser Provinz proklamirt hatte. Selbst der Hofrath Mosch, der verschlossenste Mann, den ich kenne, äußert sich unumwunden dahin, daß er die ganze Sache rein nicht begreife und gar nicht absehe, wohin das Alles noch hinführen werde. ...

Aber sagen Sie mir doch um Gotteswillen! Ist man denn dort in Wien vollends mit Blindheit geschlagen? Der kaiserlich-patentirte Carbonaro und Erzräuber von Corsica kündigt Oesterreich einen Kampf auf Leben und Tod für unterdrückte Nationalitäten an und in Wien weiß man nichts Besseres und Gescheidteres darauf, als eine der harmlosesten Nationalitäten des Kaiserreiches auf den Tod zu hetzen und gegen ihr[e] Abc-Bücher zu Felde zu ziehen. Gott bessere es!

In ruthenischen Angelegenheiten

18634 [1]855
Ministerialerlaß mißbilligt den schriftlichen Verweis, der dem Lemberger Gymnasiallehrer (ruthenischer Priester) Basil Ilnicki ertheilt worden war, weil er dem Schüler [?] nicht hatte die Vorzugsklasse geben wollen.
8721 [1]855
Ministerialerlaß, daß dem Eustach Harasymowicz (ruthenischer Priester), welcher Supplent in Sambor gewesen, dort ohne Befähigung für Geschichte verwendet worden war, dabei Taktlosigkeiten begangen hatte und deshalb entfernt worden war, die Aussicht auf Verwendung im Lehrfache, wenn er sich gehörig dafür [?], nicht abzusprechen sei.
272/CUM [1]855
Untersuchung über Disziplinarfall in Sambor, der zu Entfernung von Harasymowicz Anlaß gab.
Mehrere ruthenische Schüler hatten Versammlungen gehalten, um gegen einen polnischen Losinski [?] Klage zu führen. Von Letzterem schändliche Gotteslästerung nachgewiesen. Er hatte politische Dispute über die damalige Lage (Frage im russischen Krieg) provozirt. Die Ruthenen sich dabei mehr oder weniger russisch aussprachen. Damit wurde großer Lärm wegen schlechter politischer Gesinnung, panslawistischen Umtrieben gemacht. Nebst Losinski [?] die Ausschließung von 5 ruthenischen Schülern von allen Gymnasien beantragt. (Letzreres vom Ministerium nicht genehmigt.) Nebstbei hervorgehoben, daß der Einfluß der ruthenischen Geistlichkeit bedenklich sei und sie deshalb möglichst vom Lehramt werden fern gehalten werden!
301/CUM [1]855
Aus diesem Anlaße auch Erhebung, warum die Ruthenen bei der Messe nicht knien.
18590 [1]858
Das griechisch-katholische Ordinariat hatte dagegen Einsprache erhoben, daß griechisch-katholische Schüler am Franz-Joseph-Gymnasium dem lateinisch-katholischen Katecheten zugewiesen werden. Die Statthalterei erklärt diese Einsprache für unzuläßig!
Besondere Bemerkungen:
ad 18593 [1]858 Beleuchtung und Begründung des Mißtrauens der Ruthenen gegen Goluchowski (stützt sich auf Akten und ist sehr beachtenswerth)
ad 1800 [1]858 Beleuchtung der Vorgänge Czerkawskis bezüglich der Aufnahme ruthenischer Schüler am Franz-Joseph-Gymnasium
ad 3817 [1]860 Beleuchtung des Berichtes über die Einsprache des Lemberger Gemeinderathes gegen den Ministerialerlaß, daß an das Franz-Joseph-Gymnasium keine ruthenischen Schüler aufgenommen werden sollen.
1084/CMU [1]860 Bemerkungen über Czerkawskis ruthenisch-polnischen Lehrplan
3870 [1]859 Bemerkungen über die Behauptung, daß ruthenische Lehrer sich durch Anwendung eines aus dem kirchenslawischen und dem ruthenisch gemischten Idioms dem großrussischen zuneigen.

Jahr 1857

554/CUM
Oberste Polizeibehörde macht auf die Nothwendigkeit aufmerksam, eine gleichförmige und von der russischen Sprache prägnant unterschiedene Schreibart für das Ruthenische zu stabilieren.
1632 CUM
Rüge an Prof. Glowacer, daß er die Verbreitung der großrussischen Sprache unter den Ruthenen fördere und Mißbilligung dieser Tendenz

Jahr 1858

418/CUM
Bericht des Statthalters für Galicien, "Ich halte die Einführung der lateinischen Schriftzeichen in der ruthenischen Sprache dermalen für so wichtig, daß ich nicht umhin kann Euer Excellenz angelegentlichst zu bitten, die bereits im Erlasse vom 27. April vorigen Jahres Z. 5308 in Anregung gebrachte theilweise Anwendung derselben in den Schulbüchern in einem möglichst ausgedehnten Maaße durchführen zu lassen und zugleich beim Justizministerium dahin wirken zu wollen, daß die Herausgabe des Landesregierungsblattes in ruthenischer Übersetzung mit lateinischen Schriftzeichen angeordnet werde." (eingeschlagen)
In dem Erlasse wird auf dieses Einrathen eingegangen, der Gegenstand jedoch einer besonderen Verhandlung vorbehalten. (Eingeschlagen)3
1358/CUM
Erster Entwurf, wie das Ruthenische mit lateinischen Schriftzeichen zu schreiben wäre, an den Statthalter gesendet
1510/CUM
Gutächtlicher Bericht darüber.
Erlaß: Die Commission hat in Lemberg zu berathen. Es sollen von der Theilnahme davon solche Männer, welchen Sachkenntnis und redliches Streben für die Hebung der ruthenischen Literatur nicht abgesprochen werden kann, deshalb weil von ihnen Widerspruch zu erwarten steht, nicht ausgeschlossen werden. Es sei vielmehr wünschenswerth, daß in der Commission alle redlich genannten Bedenken und wirklich bevorstehende Schwierigkeiten der Durchführung schon zur Sprache kommen, um in vorhinein erwogen werden zu können.

Jahr 1859–1858

2. 23/CUM
Antrag wegen Ernennung der Commissionsmitglieder.
1. 1603/CUM
Erledigung der bezüglich der Pflege der ruthenischen Volkssprache erlassenen Hirtenbriefs. Conf 488 – 58

Jahr 1859

634/CUM
Anordnung wegen Beginn der kommissionellen Berathungen.
(23/5 717/CUM
Erlaß an den Statthalter über die bei der Berathung einzunehmende Haltung.
"Ich ersuche Euer Excellenz auch bei der Leitung der bevorstehenden Berathungen der Meinungsäußerung der Mitglieder den freiesten Spielraum zu gewähren und die Vorlage aufrichtig nicht als eine beschlossene Sache, sondern als einen zwar wohldurchdachten und mit der Überzeugung seiner Zweckmäßigkeit gemachten, aber bezüglich seiner Details sowohl als seiner Ausführbarkeit im Allgemeinen noch von den Ergebnissen der Berathung abhängigen Vorschlag zu behandeln."
959/CUM
Erledigung der kommissionellen Vorlagen. (Gedruckt)
Begründung derselben an den Statthalter.
862/CUM
Übersichtliche Darstellung des ganzen Vorganges an das Ministerium des Innern und die oberste Polizeibehörde.4
1080/CUM
Kritik des vom Statthalter an die politischen Unterbehörden bezüglich der ruthenischen Schreibweise erlassenen Cirkulars.
1186/CUM
enthält den Bericht des Ministerialsekretärs Jireček über die Commissionsverhandlung und als Einleitung einen Überblick der Sachlage unter den Ruthenen.5
1090/CUM
Statthalter für Galicien mit mehreren Berichten der Unterbehörden über die Stimmung des Volks gegenüber der ruthenischen Schriftfrage.
Note an das Polizeiministerium, worin die Auffassung der ruthenischen Verhältnisse in dem Berichte des galicischen Statthalters beleuchtet wird.6

Jahr 1860

1113/CUM
Note des Ministers des Innern, womit die Miteinführung der lateinischen Schriftzeichen in den ruthenischen Bukwar vom neuen bevorwortet wird.

II.

1859

1438/CUM
Bericht des galicischen Statthaltereipräsidiums, enthaltend den Antrag, daß für den ämtlichen Geschäftsverkehr der Gebrauch lateinischer Schriftzeichen in ruthenischen Eingaben und Erledigungen angeordnet werde.
Abgetreten an das Ministerium des Innern.

1860

61/CUM
Note des Ministers des Innern, womit die wegen der Geschäftssprache in Galicien getroffenen Verfügungen mitgetheilt werden.

III.

1859

1410/CUM
Erlaß an die galicische Statthalterei wegen Entwerfung ruthenischer Schriftvorlagen.
Dem darin enthaltenen Auftrage ist bisher nicht entsprochen worden.

Einwendung des Erzbischofs:
Die Kinder werden durch den Unterricht nach der neuen Orthographie nicht befähigt kirchenslawische Bücher zu lesen.
Entgegnung: Die ruthenische Sprache bedarf nicht aller jener Schriftzeichen, welche für das Kirchenslawische erforderlich sind.
Wenn die Kinder ruthenisch lesen lernen, genügen ihnen die für das Ruthenische nothwendigen Buchstaben.
Damit sie aber dennoch befähigt werden auch die im kirchenslawischen gewöhnlichen, dem Ruthenischen fremden Buchstaben kennen zu lernen, ist dem Bukwar eine Anleitung dazu beigegeben.
Damit ist dem Bedürfnisse viel besser gedient, indem man gleichartiges von ungleichartigem scheidet.
Dasselbe Bedürfnis kirchenslawisch lesen zu lernen, waltet auch unter den Serben vor und doch ist gegen die Einrichtung der Fibel, welche jener der ruthenischen ganz gleicht, keine Einrede erhoben worden.

Einwendung: Die orthographischen Änderungen werden, ohne sich zur Überlegung Zeit zu lassen, von der Commission beschlossen.
Entgegnung: Die von Malinowski beauftragten Änderungen waren nicht neu, sondern in der ruthenischen Versammlung im Jahr 1848 durch Stimmenmehrheit angenommen worden. Die Commission hat daher nicht etwas Neues, sondern etwas durch eine frühere kompetente Versammlung Beschlossenes angenommen.

Einwendung: Durch die neue Orthographie ward die ältere ruthenische Literatur von der jüngeren geschieden.
Entgegnung: In allen europäischen Sprachen haben Änderungen der Orthographie stattgefunden, ohne daß dadurch der vom Erzbischofe befürchtete Nachtheil eingetreten wäre. Die Böhmen haben z. B. nicht blos die Schreibweise, sondern auch die Schrift geändert, sind in orthographischer Beziehung viel weiter gegangen, als es im Ruthenischen geschehen ist. Dasselbe gilt von der deutschen Orthographie etc.
Auch die Ruhenen in Kleinrußland haben ihre Orthographie in der letzten Zeit bedeutender geändert, als die Lemberger Commission beantragte, und doch kann man ihnen nicht nachsagen, sie hätten ihre Literatur von der älteren abgetrennt.
Die Buchstaben, welche von der Commission ausgeschieden wurden, sind k (ja-je), б (das Erhärtungszeichen am Ende der Worte, wo es keine Bedeutung hat), є (je), wofür von ѥ nach älteren ruthenischen Drucken aufnahm, und ë (io), wofür ĭo angenommen ward, indem ĭo jedenfalls den Laut js besser bezeichnet als ein mit zwei Punkten versehenes ë. Endlich wurde der Buchstabe (zělo) ѯ ausgeschieden, der ohnedies von den wenigsten Schriftstellern angewendet wird.

Zu der ruthenischen Sprachfrage

Die ruthenische Literatur, deren Entfaltung in den ersten Jahren dieses Decenniums wir mit theilnehmender Freude begrüßt hatten, ist nun seit einiger Zeit in einen desolaten Stillstand gerathen, dessen Fortdauer in keiner Beziehung als gleichgiltig angesehen werden kann.
Die Ruthenen hatten bis in die Vierziger Jahre äußerst wenige Volksschulen. Die Bildung des Volkes und somit auch dessen materieller Zustand stand auf einer ziemlich niederen Stufe. Seitdem wurden zahlreiche Volksschulen mit ruthenischer Lehrsprache errichtet und die rege Theilnahme, welche namentlich der Landmann daran nimmt, berechtiget zu den besten Hoffnungen hinsichtlich des Gedeihens der nächsten Generation. Allein mit der Volksschule ist die Volksbildung nicht abgeschlossen. Das heranwachsende Geschlecht, welches bereits einen geregelten Unterricht genossen hat, bedarf weiterer Bildungsmittel, diese kann ihm aber keine andere Literatur biethen als die seiner Muttersprache. Auf populäre Schriften in anderen Sprachen kann man den Landmann nicht verweisen. Ohne ein volksbildendes Schriftthum liefert die Volksschule immer nur Erfolge, welche vergrabenen Schätzen gleichen.
Diese Erwägung legte es besonders der obersten Unterrichtsbehörde des Reiches nahe, nach den Gründen zu forschen, welche den oben bemerkten Stillstand der ruthenischen Literatur herbeigeführt haben und auf Mittel zu denken, um dieselben in heilsamer Weise zu beseitigen.
Überblickt man die ruthenische Literatur des laufenden Decenniums, so kann es nicht entgehen, daß die Stockung von den Bestrebungen einiger Literaten datirt, die Pflege der Volkssprache zu verdrängen, dafür aber die großrussische Schriftsprache bei den Ruthenen einzubürgern. Die überwiegende Mehrzahl der Gebildeten war weit entfernt diese Richtung zu billigen und die Versuche, die wiederholt gemacht wurden, um ihre Bahn zu brechen, gingen in Galicien größtentheils an Mangel an Theilnahme ein. Aber es läßt sich nicht verkennen, daß in Folge dieser Thatsache eine gewisse Rathlosigkeit gerade in jenen literarischen Kreisen eintrat, welche zu der Einführung des Großrussischen nie ihre Zustimmung gegeben hätten.
Man hatte für das Ruthenische in allen wesentlichen Stücken die hergebrachte Orthographie des Kirchenslawischen beibehalten; man fand es ganz natürlich aus der ausgebildeten liturgischen Sprache Wörter herüberzunehmen, ohne an die Nothwendigkeit zu denken, daß ihnen, wenn sie anders als ruthenisch gelten sollen, jene Form gegeben werden muß, welche den Gesetzen der ruthenischen Laut- und Wortbildungslehre zusagt. Durch diesen Vorgang gerieth aber die ruthenische Volkssprache in Gefahr in jenen Entwicklungsgang zu gerathen, den die großrussische Schriftsprache durchgemacht hat.
Die großrussische Schriftsprache hat sich nicht aus der Volkssprache allein, sondern aus dieser und der Kirchenslawischen herausgebildet. Auch sie gebraucht eine Orthographie, welche dem Kirchenslawischen entnommen ist.
Die Gemeinsamkeit der Orthographie im Großrussischen, Ruthenischen und Kirchenslawischen konnte nicht verfehlen Irrungen herbeizuführen, welche, wenn ihnen auch jede Absichtlichkeit ferne lag, geeignet waren, die ruthenische Sprache in falsche Bahnen zu bringen. Die Gefahr war um so größer, als es aus sehr natürlichen Ursachen, deren Schuld am allerwenigsten den Ruthenen zugeschrieben werden kann, im Allgemeinen an einer gründlichen Einsicht in das Wesen der eigenen Volkssprache gebrach und das Kirchenslawische nicht nur durch den liturgischen Gebrauch, sondern durch eine jahrhundertelange Übung heimisch geworden ist, daß man dasselbe mit demselben Namen wie die Volkssprache bezeichnete. Man war sich dieses Zustandes mehr weniger klar bewußt, fühlte dessen Druck, aber war außer Stande, selbst Abhilfe zu schaffen. Da zogen es dann die meisten Schriftsteller vor lieber ihre Arbeiten bei Seite zu legen, als sich Vorwürfen auszusetzen, denen entgehen zu wollen, sie allerdings Grund hatten, und es trat jener oben charakterisierte Zustand ein, welcher unter den Ruthenen für lange Zeit hin beinahe alle literarische Thätigkeit vernichtet haben würde.
Unter den gegebenen Verhältnissen war nur Ein Mittel geboten um die Schwierigkeiten zu bannen und die Volkssprache in der Literatur wieder zur vollen Geltung zu bringen, nämlich die Orthographie so zu regeln, wie dies dem Wesen der ruthenischen Sprache zusagt. Nur dadurch konnte man in weiteren Kreisen am raschesten die Erkenntnis verbreiten, daß das Ruthenische eine selbständige Sprache ist und daher in seiner Entwickelung nur jene Wege einschlagen könne, welche in seinem eigenen Organismus und nicht in dem einer zweiten, wenn auch verwandten Sprache vorgezeichnet sind.
Durch die Scheidung desjenigen, was nicht zusammen gehört, kann es ferner möglich werden, auch der Kirchensprache im vollen Maße jene Pflege angedeihen zu lassen, welche ihr die ehrwürdige Geltung im Ritus der griechisch-katholischen Kirche zuweiset. Durch jene Scheidung kann es endlich auch möglich werden, daß die Kirchensprache, und vor allem das Altslowenische als die ältere Form derselben, jenen ersprießlichen Einfluß auf die Ausbildung der ruthenischen Schriftsprache übe, welcher nicht verwehrt, sondern im Gegentheile gewünscht werden muß.
Diese Erwägungen veranlassten das Unterrichtsministerium in Lemberg eine Commission zu berufen, welche zunächst über die Frage der ruthenischen Schreibweise und weiter auch über andere die Entwickelung der ruthenischen Sprache berührende Punkte ein Gutachten abzugeben hatte. Es wurden hiezu die ersten kirchlichen Würdenträger und die bedeutendsten Vertreter der Wissenschaft unter den Ruthenen berufen.
Die Commission hat ihre Aufgabe gelöst, die Nothwendigkeit einer Revision der ruthenischen Orthographie nicht nur anerkannt, sondern auch beantragt und eine Reihe von grundsätzlich wichtigen Sätzen über die Pflege der ruthenischen Sprache festgestellt.
Wenn gleich darüber ein endgiltiger Ausspruch noch nicht geschehen ist, so können wir doch die Überzeugung aussprechen, daß die fragliche Verhandlung, weit entfernt die ruthenische oder die kirchen- [...]7