Leo Thun schildert Kaiser Franz Joseph seine Ansichten zur Situation in Lombardo-Venetien und zur gebotenen Reaktion Österreichs auf den Einmarsch der Franzosen in Mailand. Thun spricht sich dagegen aus, die Armee aus der Lombardei zurückzuziehen und das Land Napoleon III. kampflos zu überlassen. Damit würde Österreich sowohl im Inneren als auch nach Außen als Verlierer dastehen. Thun glaubt, dass Österreich nur aus einer Position der Stärke heraus handlungsfähig bleiben kann.
Konzept meines an Seine Majestät
abgeschickten Schreibens
Hetzendorf, gleich nach dem
Einzuge der Franzosen in Mailand 1859.1
Tief erschüttert von den Ereignissen dieser Tage, kann ich dem Drange nicht
widerstehen, Euer Majestät die Gedanken und Gefühle auszudrücken, die mich und
ich glaube viele der treuesten Unterthanen Euerer Majestät
bewegen.
Napoleon hat es gewagt,
obgleich zwei österreichische Armeen im lombardisch-venezianischen Königreiche stehen, seine
Operationsbasis zu verlassen und nach Mailand zu
marschieren. Er ist, trotz der [?] und dem Löwenmuthe, mit dem die Truppen
fochten, die er begegnete, in Mailand eingezogen, weil er
nur einer verhältnismäßig kleinen Heldenschaar begegnete.
Wenn die Heere
Euerer Majestät sich jetzt zurückziehen sollten, was würden die Folgen dieser
Ereignisse sein:
1. Für die Lombardie.
Ich zweifle nicht daran, daß Euere Majestät sie später wieder erobern werden,
aber es wird doch ein neuer thatsächlicher Beweis geliefert sein, daß Österreich sie bei jedem Kriege in
Italien, auch bei einem vorhergesehenen, zeitweilig
seinen Feinden Preis geben muß. Wie ist es unter solcher Voraussetzung möglich,
sie erfolgreich zu regieren? Wem kann dann zugemuthet werden, für die Regierung
einzustehen und entschieden zu ihr zu halten, wenn es eine ausgemachte Sache
ist, daß sie ihn gegen ihre und seine Feinde nicht schützen kann?
2. Für die
Stellung Österreichs. Wenn Napoleon demnächst nach
Paris triumphirend heimkehren kann, während die
österreichischen Heere sich zurückziehen, so wird er befestigt in seiner
Stellung nach innen wie nach außen seine diplomatischen Intriguen wieder
aufnehmen, Östreich wiederum[?] in einen
Kongreß zitiren, vielleicht großmüthig später erklären, daß er sich damit
begnügen wolle, wenn Östreich nur die
Lombardie an Piemont
abtrete und alle unsere Feinde und falschen Freunde werden auf seiner Seite
stehen.
Deshalb will es mir scheinen: Alles liegt daran, noch jetzt, wenn es
nur irgend möglich ist, ihm nicht zu gestatten, daß er triumphirend heimkehre,
ihm in Mailand keine Ruhe zu lassen. Sollte darüber – was
Gott verhindern wolle – selbst eine der Armeen Euerer Majestät aufgerieben
werden, es würde nicht geschehen, ohne daß die Feinde in wenigstens gleichem
Maaße geschwächt würden und unsere Stellung am Mincio wäre danach eben so gut
wie jetzt. Beweise unserer Zähigkeit im Kampfe, des Muthes nicht nur der
Truppen, sondern auch ihrer Führer würden uns die Sympathien wieder gewinnen,
die wie ich fürchte, durch die eilige Räumung Mailands angesichts eines Feindes, der selbst gestand ausruhen
und sich reorganisiren zu müssen, sehr gelitten haben. Gelänge es aber Euerer
Majestät, ohne das Heer aus der Lombardie
zurückzuziehen, Mailand wieder zu erobern und den Feind
zum Lande hinaus zu jagen, so wäre doch noch so ziemlich dasselbe erreicht, als
wenn er gehindert würde, die Gränze zu überschreiten. Gott gebe, daß Euere
Majestät die Lombardie nicht räumen, ohne
eine Hauptschlacht geliefert zu haben. Der Allmächtige wird die Waffen Euerer
Majestät segnen!
Willig, ja größtentheils freudig tragen die Völker Euerer
Majestät schwere Lasten, um ein mächtiges Heer in Italien zu
erhalten. Sie werden hoffentlich auch noch ferner in Glück und Unglück treu und
muthig ausharren, wenn Euere Majestät ihren Muth neu beleben. Aber zu sehen, wie
die finanziellen Kräfte erschöpft werden und die Brüder in immer ungleichen und
nur darum vergeblichen Gefechten verbluten, während der größere Theil des Heeres
nicht in den Kampf geführt wird, das Euere Majestät, zerstört alles Vertrauen
und hat der Stimmung sehr geschadet. Vielleicht setzte ich mich, dadurch, daß
ich unberufen so schreibe, der allerhöchsten Ungnade aus, zumal ich von
militärischen Dingen nichts verstehe; ich händige mich der Gnade, mit der Euere
Majestät bei anderen Anläßen den freimüthigen Ausdruck meiner Besorgnisse
angehört haben [aus]. Aber Euere Majestät haben mich bei anderen Anläßen gnädig
angehört und werden wenigstens daran nicht zweifeln, daß nur die innigsten
Gefühle für Euere Majestät und das Reich mich verleiten, wieder einmal darauf zu
[?], daß Euere Majestät bei anderen Anläßen den Ausdruck meiner Besorgnisse
gnädig angehört haben.