Der Bibliotheksdirektor August Bielowski erklärt dem Minister seine Position in der Auseinandersetzung der Prüfungskommission in Lemberg um die Reprobation des Kandidaten Stanislaus Pilat. Zunächst betont er, dass er das Amt des Prüfers stets als große Würde erachtet habe und darum bemüht war, alles zu tun, um den Stellenwert der Prüfung und der Prüfungskommission zu heben. Diese Absicht wurde jedoch durch die Praxis des Prof. Wilhelm Kergel vereitelt, jeden Kandidaten bei der ersten, schriftlichen Prüfung zunächst durchfallen zu lassen. Er vermutete hinter dieser Praxis Kergels Hoffnung, dass sich dann mehr Kandidaten in das philologische Seminar einschreiben würden, das bis dahin nur wenige Studenten besuchten. Er, Bielowski, vertrat indes stets die Ansicht, dass ein Kandidat sich in der mündlichen Prüfung hervortun und dadurch ein schlechtes Abschneiden bei der schriftlichen Arbeit kompensieren könne. So stimmte er auch in besagter Sitzung der Prüfungskommission gegen die Reprobation des Kandidaten Pilat. Kergel fühlte sich darin offenbar so gekränkt, dass er wenige Tage später eine schriftliche Anklage gegen ihn verfasste und ihn zur Rücknahme seines Einspruchs aufforderte. Er rechtfertigte sich daraufhin schriftlich, woraufhin Kergel erneut eine schriftliche Eingabe verfasste, in der er ihn mehrfach und beleidigend angegriffen habe. Auf diese reagierte er jedoch nicht mehr, auch wollte er sich nicht an das MCU wenden. Erst als der Streit von offizieller Seite an das Ministerium berichtet wurde, wollte er seine Stimme ebenfalls gehört wissen. Er hofft, Thun werde sein Vorgehen respektieren und darin nichts als seine treueste Pflichterfüllung erkennen.
Eure Excellenz Hochgeborner Herr Graf!
Ich wage hiemit Eure Excellenz auf ein paar Augenblicke um Gehör zu bitten, da
dieß zur näheren Beleuchtung einer eben dem Hohen k.k. Ministerium des
Cultus und des Unterrichtes vorgelegten Verhandlung beitragen
dürfte.
Seit der Zeit als Euer Excellenz die hohe Gnade mir zu Theil werden
ließen, mich zum Mitglied der Prüfungscommission für die
Gymnasiallehramtscandidaten zu bestimmen, habe ich die Pflichten des Examinators
stets mit Gewissenhaftigkeit erfüllt, ja es schien mir eine Sache von höchster
Wichtigkeit, daß die Absicht des Hohen k.k.
Ministeriums in der Einführung dieser Prüfungscommission nicht nur
auf Vollständigste erreicht, sondern auch in dem Publikum als segensvolle
Maßnahme erfasst; dagegen Alles, was diesem entgegentritt, beseitigt werden
soll. Nicht ohne Betrübnis sah ich, daß die vom Herrn Dr. Kergel, Examinator für Philologie, bei
der Prüfung adoptirte Maßregel, die Candidaten gleich bei der ersten
schriftlichen Prüfung zu werfen, in dem Publikum einen üblen Eindruck macht und
zu mancherlei für die Prüfungscommission ungünstiger Auslegung Anlaß giebt. Herr
Dr. Kergel leitet nämlich an der
Lemberger Universität das
Philologische Seminar und hat leider sehr wenige Zuhörer. Es verbreitet sich
nun, wie ich glaubte mit Unrecht, die nachtheilige Meinung, daß jene Maßregel
des Herrn Dr. Kergel, die Candidaten
bei der ersten Prüfung zu werfen, in der Absicht geschieht, die Zahl seiner
Zuhörer im Philologischen Seminar zu vergrößern. Wie irrig auch die Meinung sein
mag, so fordert doch die Klugheit selbst dasjenige zu vermeiden, was immer
solcher Meinung einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit geben könnte. Leider
that man das Gegentheil: vor [ein] paar Jahren z.B. bei der Begutachtung des
schriftlichen Elaborats des Candidaten Sobieski, versicherte Herr Dr.
Kergel die Commission auf das Bestimmteste, der Candidat brauche
wenigstens ein Jahr, um nur die Prüfung für das Untergymnasium machen zu können;
als aber derselbe Candidat, welcher auf diese Weise von Herrn Dr. Kergel geworfen war, sich in die
Vorlesungen des Herrn Examinators einschreiben ließ, wurde er von Herrn Kergel in einem Jahre sogar zum Lehrer
am Obergymnasium für befähigt erklärt.
Was mich anbelangt, so bin ich
überzeugt, daß die Absicht des Hohen k.k. Ministeriums immer erreicht werden
kann, der Candidat möge wegen seiner unzulänglichen Kenntnisse bei der ersten
oder bei der zweiten Prüfung abgewiesen werden; daß aber Letzteres nur beitragen
kann, das Ansehen der Commission und eine richtige Meinung von derselben
aufrecht zu erhalten. Das Urtheil von den Fähigkeiten des Candidats bloß aus
einem schriftlichen Elaborat geschöpft, kann noch viel Problematisches
enthalten. Wie viele fähige und gründlich gelehrte Männer giebt es, die sich in
der schriftstellerischen Darstellung ihrer Gedanken nie versucht haben! Dagegen
liefert eine in dem weiteren Prüfungsstadium gelieferte lebendige Probe der
Kenntnisse und Fähigkeiten einen unwiderleglichen Beweis für oder wider den
Candidaten und hat überdieß das Gute für sich, daß auch ein Beweis vorliegt: die
Commission habe nichts unversucht gelassen, woraus sie ihre Überzeugung in Bezug
auf den Candidaten, seine Fähigkeiten und Kenntnisse schöpfen konnte, und daß
sie dabei mit größter Vorsicht und Gewissenhaftigkeit zu Werke gieng.
Dieser
meiner Grundansicht zufolge stimmte ich, sooft ein Zweifel entstand, ob der
Candidat zu weiteren Prüfungsstadien zugelassen oder abgewiesen werden soll, für
das Erstere. Bekanntlich ist es in dem Falle keine Begünstigung des Candidaten,
da zu vermuthen steht, daß der Examinator, um sich bei seinem abweisenden Antrag
zu behaupten, in dem folgenden Prüfungsstadium mit aller Strenge vorgehen würde;
doch war es hierin nicht um den Candidaten zu thun, sondern um den Beweis der
möglichst größten Gewissenhaftigkeit und Vorsicht von Seite der
Prüfungscommission. Demnach stimmte ich für die Zulassung zu weiteren
Prüfungsstadien des schon erwähnten Candidaten Sobieski und trug kein Bedenken, mein diesfälliges Separatvotum
schriftlich dem Hohen k.k. Ministerium zu unterbreiten. Später vereinigte ich
meine Stimme mit dem Votum derjenigen Herrn Commissionsmitglieder, welche bei
verschiedenen Candidaten in ähnlichen Fällen für die Zulassung stimmten. Endlich
in der Sitzung vom 2. Juni letzten Jahres trug ich auch bei Gelegenheit der
Abstimmung über das schriftliche Hauselaborat des Candidaten Pilat aus demselben Beweggrunde auf die
Zulassung desselben zum folgenden Prüfungsstadium an. Namentlich fiel es mir
auf, daß der Herr Dr. Kergel in der
Begutachtung des Elaborats dieses Candidaten demselben den Vorwurf „einer
überaus starken Gedankenlosigkeit“ machte, da doch derselbe Candidat wegen
seiner bisherigen literarischen Leistungen eine bereits anerkannte Capacität
ist. Sowohl aus Anlaß dieser als auch mancher andern Unrichtigkeiten fand ich
mich also in der Sitzung vom 2. Juni bewogen, meine Bedenken gegen den Antrag
des Herrn Kergel auf die Abweisung der
Candidaten beizubringen, indem ich dabei nichts andres beabsichtigte, als daß
wenigsten eine Spur vorhanden sei, daß die Commission diese Angelegenheit in
eine nähere Erwägung zog, bevor sie zur Abstimmung geschritten ist.
Obwohl
nun die Sitzung mit Ruhe und gehöriger Würde zu Ende ablief, und auch ein paar
Tage darauf nichts über diese Debatte verlautete, so gefiel es doch dem Herrn
Dr. Kergel, der in meiner
Gegenmeinung eine Beleidigung für sich sah, eine schriftliche Erklärung an die
Löbliche Direction abzugeben, worin ich aufgefordert werde, meine in der Sitzung
vom 2. Juni vorgebrachten Ausdrücke, die ihm beleidigend schienen, allsogleich
und in Gegenwart der ganzen Commission zu widerrufen; im entgegengesetzten Falle
aber wolle die Löbliche Direction diese seine Erklärung dem Hohen k.k.
Ministerium vorlegen.
Auf diese mir durch die Löbliche
Direction eröffnete Erklärung erfolgte meinerseits die Äußerung vom 2. Juli, in
welcher ich sowohl meine Absicht als auch meine in der Sitzung vom 2. Juni
gesprochenen Worte gehörig rechtfertigte, und sie von jeder unrichtigen Deutung
ferne hielt; ich gieng hierin so gewissenhaft vor, daß ich sogar Stellen aus
Cicero, die ich während der mündlichen
Debatte bloß aus Gedächtnis zitirte, in meiner schriftlichen Äußerung nicht aus
den Werken nachzubessern zu müssen glaubte, und war der Überzeugung, daß der
Streit hiemit erlediget sei. Doch nahm der Herr
Dr. Kergel keinen Anstand von neuem eine schriftliche 13 Bogen
starke Erwiederung zusammenzuschreiben, überfüllt mit allerlei stichelnden,
beleidigenden und sogar verdächtigenden Ausfällen. Wiewohl ich in meinem
Bewußtsein und in meinem Gewissen das Recht fand, eine derlei Erwiederung des
Herrn Dr. Kergel gänzlich
unbeachtet zu lassen, so glaubte ich doch, der an mich ergangenen Aufforderung
der Löblichen Direction aus schuldiger Achtung für die Letzere Folge leisten zu
müssen: gab eine schriftliche Äußerung vom 23. October letzten Jahres mit aller
nur möglichen Ruhe und bath um das Eine nur, die Löbliche Direction möge mich
fernerhin von allem weiteren Schriftwechsel in Bezug auf diesen Streit befreien.
Über den Hergang dieser Angelegenheit Eurer Excellenz zu berichten, bevor
die diesfälligen Acten dem Hohen Ministerium vorgelegt waren, schien es mir
nicht angemessen, um nicht der Meinung Eurer Excellenz, die Hochdieselben auf
ämtlichen Wege fassen konnten, vorzugreifen. Jetzt, da bereits die ganze
diesfällige Verhandlung Eurer Excellenz vorliegt, wage ich in dieser meine Ehre
und mein Gewissen so nahe berührenden Angelegenheit, mich an Eure Excellenz mit
einer getreuen Schilderung der Sache zu wenden. Ich thue es in der festesten
Überzeugung, daß nachdem Euere Excellenz mich [sic!] als Prüfungscommissionsmitglied
Dero hohes Vertrauen gnädigst zu schenken geruheten, es meine Pflicht sei, in
einer Sache, die dieses für mich ehrenvolle Vertrauen angeht, Eurer Excellenz
nicht nur von meinem Vorgehen in dieser Angelegenheit, sondern auch von meinen
innersten Beweggründen, die sonst aus manchen Rücksichten sich nicht anderswo
anführen ließen, eine genaue Schilderung zu geben. Diese Überzeugung und das
Bewußtsein eines ehrenhaften und für die Zwecke der Hohen Regierung
bestgemeinten Vorgehens gaben mir Muth, mein gegenwärtiges unterthänigstes
Schreiben der Hohen Einsicht Euerer Excellenz zu unterbreiten.
Ich verharre
mit tiefster Ehrfurcht
Euerer Excellenz des Hochgebornen Grafs unterthänigster Diener
August
Bielowski
Lemberg am 3. November 1855