Der Jurist Friedrich Maassen erstattet Leo Thun Bericht von seinem Archivaufenthalt in der königlichen Bibliothek von Paris. Zuvor spricht er aber Thun seinen Dank aus, denn nur durch dessen Förderung und Gunst sei die Forschung möglich geworden. Maassen schreibt, dass die Fülle der Quellen seine Erwartungen weit übertroffen habe und er mit den Ergebnissen mehr als zufrieden sei. Schließlich bittet Maassen, wie schon in vorangegangenen Briefen, um eine Versetzung von Innsbruck an eine andere Universität, etwa an die Universität Graz. Als Grund für diesen Wunsch führt er die ungünstigen Auswirkungen des Innsbrucker Klimas auf seine Gesundheit an. Zur Bekräftigung seiner Bitte führt er an, dass mit Heinrich Tewes und Ernst Theser zwei Vertreter für das Römische Recht vorhanden seien.
Eure Excellenz!
Nachdem ich jetzt bereits länger als ein Vierteljahr in Paris mich aufgehalten und während dieser Zeit ohne
Unterbrechung mit Recherchen auf der hiesigen kaiserlichen Bibliothek mich
beschäftigt habe, bitte ich um die hohe Erlaubnis, über die Ergebnisse meiner
bisherigen Nachforschungen ehrerbietigst Bericht abstatten zu dürfen.
Hochdieselben haben mein Unternehmen mit soviel Huld begleitet, es mit so
besondrer Gunst gefördert, ja, ich kann mit Recht sagen, erst möglich gemacht,
daß ich zu hoffen wage, Hochdieselben werden meinen Bericht nicht ungnädig
aufnehmen.
Statt, wie ursprünglich mein Plan war, zuerst nach Brüssel zu gehen, entschloß ich mich noch kurz
vor meiner Abreise, ohne Aufenthalt direct nach Paris mich zu begeben und erst auf dem Rückwege in Brüssel zu verweilen. Was ich über die hiesigen
canonistischen Manuscripte aus dem um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
gedruckten Katalog und aus verschiedenen Nachrichten über die seit der
Revolution zugewachsenen Fonds erfahren hatte, ließ mich erwarten, daß meine
Ausbeute hier eine sehr große sein werde. Es erschien mir daher bei nochmaliger
Überlegung rathsam, erst dann minder bedeutende Punkte aufzusuchen, wenn ich in
Paris fertig sei.
Meine Erwartungen über das, was
ich in Paris finden würde, waren groß; aber sie sind
durch das, was ich wirklich gefunden habe, weit übertroffen.
Es wäre mir
unmöglich Eurer Excellenz ein Resumé meiner hiesigen Erhebungen zu geben, ohne
zuvor meinen ehrerbietigsten und tiefsten Dank auszusprechen für die ausnehmende
Güte, durch die ich in den Stand gesetzt bin, diese ungeheuren, zum bei weitem
größten Theil ungehobenen literarischen Schätze für meinen Zweck fruchtbar zu
machen.
Was die Quellen betrifft, so fanden sich zunächst drei bisher
unbekannte Decretalensammlungen des 12. Jahrhunderts – eine aus dem alten Fonds
der Königlichen Bibliothek, die zweite aus Compiegne, die
dritte aus St. Germain –, die über die Genesis der ersten
von der Schule recipirten, das Muster aller spätern bildenden Sammlung ein
vollkommen neues Licht verbreiten. Es läßt sich zeigen, daß die drei bisher
bekannten Sammlungen – von denen die eine in den großen Collectionen der
Concilien, die andre nach einer Kasselschen
Handschrift in Böhmers Corpus juris
canonici abgedruckt, die dritte aber durch Richter in einer Leipziger Handschrift entdeckt ist –,
wesentlich nur Seitenäste sind, während durch zwei von diesen unmittelbar der
Stoff in die Compilatio prima geleitet wurde. Ferner fand sich in dem Fonds
Bouchier die Sammlung Bernhards von
Compostella von Decretalen Innocenz III., die bisher nur nach
einer ziemlich ungenauen Beschreibung einer Londoner Handschrift durch Theiner bekannt war. Mit Hülfe dieser vier
Handschriften, einer in Salzburg von mir aufgefundenen
der verloren geglaubten Sammlung des Alanus und zwei
Fuldaischen Manuscripten, von denen ich durch Güte die Beschreibung des
verstorbenen Bickell besitze, wird es
nun möglich, eine vollständige Geschichte der
Quellensammlungen von Gratians Decret bis zu
der 1234 erschienenen Sammlung Gregors IX.
zu geben.
Für die Geschichte der zwischen die letztgenannte Sammlung und den
liber sextus Bonifacius des VIII.
fallenden Decretalen, namentlich über die Art und Weise, wie man sie selbständig
sammelte oder aber der Gregorianischen Sammlung einzuverleiben suchte, habe ich
ebenfalls interessante Aufschlüsse gefunden. Für die Clementinen und
Extravaganten hat schon früher Bickell die hiesige Bibliothek benutzt. Es fanden sich aber auch
für die Geschichte dieser Sammlungen in Manuscripten, die zu Bickell’s Zeit noch nicht katalogisirt
waren, neue, erhebliche Gesichtspunkte.
Was die Literatur des canonischen
Rechts betrifft, so ist die Ausbeute sehr groß. Es ist keine für meinen Zweck in
Betracht kommende Periode, die hier nicht in ihren bedeutendern und minder
bedeutenden Schriftstellern reich vertreten wäre. Die Literatur von Gratians Decret, die Literatur der
Decretalensammlungen von dem Breviarium Bernhards
von Pavia bis zu den letzten Extravaganten, die systematischen
Arbeiten über das canonische Recht im Ganzen, wie die Tractate über einzelne
Materien, den Proceß, das Eherecht usw. sind in großer Fülle vorhanden und was
die Arbeit so ersprießlich macht, meistens dasselbe Werk in mehreren Exemplaren,
so daß es möglich wurde, auch da, wo nicht bereits fremde oder eigne Notizen
über andre Handschriften vorlagen, die genuine Gestalt eines Werks von dem, was
nur Eigenthümlichkeit eines Manuscripts ist, zu unterscheiden.
Auch für die
Gelehrtengeschichte im engern Sinne bot sich die Gelegenheit vieles zu sammeln.
Mein Hauptaugenmerk mußte freilich auf die Bibliographie gerichtet sein. Ein
näheres Eingehen auf den Inhalt aller einzelnen Manuscripte, soweit es nicht das
bibliographische Interesse erforderte, namentlich ein Suchen nach biographischen
Notizen in ihnen, wäre unmöglich gewesen. Ich habe mir für ein näheres Studium
vorzugsweise solche Werke gewählt, von denen ich mit Wahrscheinlichkeit keine
Exemplare auf österreichischen und deutschen Bibliotheken finde. Neben anderm
ist mir der handschriftliche Nachlaß des ausgezeichneten Gelehrten Baluze, in dem mir durch die Gefälligkeit
eines Angestellten der Bibliothek das für mich erhebliche, namentlich eine
vollständig vorbereitete neue Ausgabe der Briefe Stephans von Tournai mit Noten, nachgewiesen wurde, sehr zu
Statten gekommen.
Was mir jetzt noch bleibt, sind die vorgratianischen
Canonensammlungen, soweit sie für meinen Zweck Bedeutung haben. Es handelt sich
vor allen Dingen um die vermittelnden Sammlungen, mit denen sich der erste,
einleitende Theil meiner Aufgabe beschäftigen wird. Nach dem, was ich mir aus
den Katalogen notirt habe, darf ich auch in dieser Beziehung auf reichen Gewinn
mir Hoffnung machen. Ich rechne auf eine Arbeit von 6–7 Wochen.
Wenn auch
dieser letzte kleinere Theil meiner hiesigen Arbeit nach Wunsch ausfällt, was
ich nicht bezweifle, so habe ich daher allen Grund von dem Ergebnis meines
hiesigen Aufenthalts in ausgezeichnetem Maaße befriedigt zu sein.
Die
Hauptpunkte, die mir nach Paris noch bleiben, sind
Wien und einige der bedeutendsten italienischen
Sammlungen. Ohne in Bologna gewesen zu sein, könnte ich
nicht mit der genügenden Sicherheit behaupten, daß mir nichts Wesentliches
entgangen sei.
Damit wäre der erste, schwierigere Theil des Unternehmens,
das Suchen der Handschriften, beendigt.
Die zweite, nicht minder wichtige
Hälfte, die Sammlung von Notizen über Drucke und die Vervollständigung des
historischen Materials, würde schon mit einer einzigen Bibliothek im
Wesentlichen zu Stande gebracht werden können.
Die hohe kaiserliche
Gesandtschaft hat auf das bereitwilligste ihre Verwendung mir gewährt. Ich habe
die Befugnis erhalten, Handschriften ins Haus zu nehmen, so daß ich auch außer
den 6 Stunden, in denen an Wochentagen die Bibliothek geöffnet ist, mich
beschäftigen kann. Auch das verdanke ich Eurer Excellenz.
Halten Eure
Excellenz zu Gnaden, wenn ich vor dem Schlusse meines ehrerbietigsten Schreibens
noch einen Punkt berühre, der lediglich meine Person angeht. Ich habe schon
früher Eurer Excellenz gehorsamst vorzutragen mir erlaubt, wie ungünstig das
Innsbrucker Klima auf meine
Gesundheit einwirkt. Statt abzunehmen hat das Übel zugenommen. Nicht ohne ernste
Sorge sehe ich einem erneuerten längern Aufenthalt in
Innsbruck entgegen. Ich würde alle andern
Belästigungen des dortigen Klimas, häufigen mitunter sehr heftigen Kopfschmerz,
schlechten durch Beängstigung gestörten Schlaf minder hoch anschlagen, wenn
nicht unter den durch das Klima bewirkten Congestionen auch meine Augen litten.
Das aber ist ein Punkt, der mich entschieden beunruhigt. Ich habe hier in
Paris viel mehr gearbeitet, als während des letzten
Sommers in Innsbruck und doch sind meine Augen merklich
besser, namentlich frei von jeder schmerzhaften Empfindung. Kopfschmerz habe ich
noch nicht ein einziges "Mal" gehabt. Bevor ich nach
Innsbruck kam, waren mir Kopfschmerzen eine
unbekannte Sache.
Daß es lediglich das Interesse meiner Gesundheit und nicht
etwa das der Verbesserung meiner finanziellen Lage ist – so sehr ich Grund habe
die letztre zu wünschen –, was mich eine Versetzung von Innsbruck wünschen läßt, wird Eurer
Excellenz am besten das beweisen, daß ich meine Bitte nicht etwa auf Versetzung
nach einer Universität richte, an der die äußre Stellung der Professoren besser
ist. Ich würde Hochdenselben zu großem Danke mich verpflichtet fühlen, wenn mir
eine Professur an einer mit Innsbruck vollkommen gleichgestellten Universität, z. B. Gratz, übertagen würde.
Im Interesse
meiner Bitte darf ich nicht unerwähnt lassen, daß der Privatdocent der
juristischen Facultät in Innsbruck Dr. Tewes als tüchtiger und strebsamer junger Gelehrter von guten
Grundsätzen und Sitten sich empfiehlt. Er liest in diesem Semester Institutionen
vor 36 Hörern; wie ich vernehme, mit großem Beifall. Er schreibt mir, daß er
gegenwärtig mit einer Publication beschäftigt sei. Ich bin der Überzeugung, daß
den Bedürfnissen der Innsbrucker
Universität durch Professor Theser und Dr. Tewes bezüglich des römischen Rechts vollkommen genügt
ist.
Verzeihen Eure Excellenz, daß ich Hoch Sie mit den Angelegenheiten
meiner Person selbst von Paris aus nicht verschone. Aber
es liegt ein Fall der Noth für mich vor.
Indem ich noch einmal um Erlaubnis
bitte, Hochdenselben meinen gehorsamsten und innigsten Dank ausdrücken zu
dürfen, verharre ich in unbegränzter Hochachtung und ausgezeichnetem Respect
als
Eurer Excellenz
gehorsamster Diener
Dr. Maaßen
Paris, Rue de Richelieu 69, den 22. Januar 1860