Ministerialrat Johann Kleemann legt dem Minister – mit Rücksicht auf ein vorangegangenes Memorandum – einige Gedanken zur aktuellen Diskussion um die Reform des Gymnasiallehrplanes dar. Zunächst spricht er sich dafür aus, dass man von Seiten des Ministeriums Klarheit darüber schaffe, ob man zum alten System zurückkehren wolle oder ob man nur einige Änderungen des kaiserlich sanktionierten Organisationsplans zur Diskussion stelle. Gleichzeitig spricht er sich dafür aus, dass man gegenüber Änderungsvorschlägen offen sein solle. Er selbst ist für eine Beibehaltung des Organisationsplans, er schlägt jedoch einige Änderungen vor: Das Untergymnasium soll künftig nicht als Vorbereitung sowohl für die Realschulen als auch für die Gymnasien bezeichnet werden. Denn durch diese doppelte Fokussierung könne man im Grunde keinem der beiden Zwecke gerecht werden. Eine klare Trennung von Unter- und Obergymnasium ist aus seiner Sicht in der Theorie zwar richtig, aber in der Praxis nicht zielführend. Er plädiert außerdem grundsätzlich dafür, die pädagogische Praxis nicht zur Sklavin der Theorie zu machen, sondern sich vielmehr nach den Erfordernissen und dem Können der Schüler zu richten. Als Vorbilder nennt er dabei Bayern und Preußen, wenngleich er deren Vernachlässigung der Naturwissenschaften kritisiert. Klar spricht er sich zwar – auch im Hinblick auf die im Raum stehende Erhöhung der Anzahl der Lateinstunden – gegen eine Überfrachtung der Lehrpläne aus, da ansonsten die Prinzipien des Organisationsentwurfes, nämlich Charakterbildung nicht Dressur, Können nicht Wissen, darüber verloren gehen würden. In der Folge geht er auf die Gründe ein, warum er dennoch für eine Erhöhung der Lateinstunden eintritt. Neben den schlechten Fortschritten im Lateinunterricht sieht er besonders im Fach Geografie Verbesserungsbedarf. Kleemann betont schließlich, dass alle von ihm genannten Punkte nicht neu seien, sondern vielmehr seit Jahren diskutiert würden. Umso mehr bedauert er daher, dass in dem vom Ministerium angeregten öffentlichen Diskussionsprozess nur in wenigen Beiträgen brauchbare Lösungen präsentiert wurden. Kleemann möchte außerdem, dass man einheitliche Noten für alle Gymnasien einführt, damit man die Schüler und deren Fortschritte möglichst objektiv bewerten könne. Außerdem spricht er sich für eine Reform der Maturitätsprüfung aus, damit diese wirklich zu einer Reifeprüfung werde und nicht ein Abfragen von Wissen bleibe, bei dem auch Glück eine große Rolle spiele. Schließlich betont er, wie sehr es in schmerze, dass der Organisationsentwurf von vielen Zeitungen diffamiert werde, nicht zuletzt indem man ihn als ein Diktat des Episkopats und der Jesuiten hinstelle. Nichts desto trotz möchte er eine Angleichung der kirchlichen und staatlichen Gymnasien erreichen, da die Kluft zwischen beiden nur negativ wirken würde. Er hofft, Thun möge seine Vorschläge gnädig aufnehmen.
Euere Excellenz,
hatten vor zwei Wochen die Gnade sich über den Stand der Gymnasialfrage gegen
mich auszusprechen. Ich glaubte hiebei zu erkennen, daß Euer Excellenz sich in
dieser Beziehung ein resultierendes Urtheil noch nicht gebildet und auch darüber
noch nicht einen Beschluß gefaßt haben, in welchem Modus das der
Berathungscommission vorzutragende Programm zu verfassen wäre.
Unter diesen
Umständen und nachdem Monate verflossen, seit ich mein zweites Operat1 über diese Frage Eurer Excellenz zu überreichen die
Ehre hatte, halte ich es für geboten und mich für verpflichtet, über die neueste
Phase, die diese Frage seit mehreren Monaten durchgemacht, ein Referat der
hochgeneigten Erwägung Eurer Excellenz nicht vorzuenthalten, wenn auch eine
Rücksicht der Dringlichkeit nicht vorliegt, da auf ein Endresultat das schon für
das Schuljahr 1859 zu gelten hätte, nicht gerechnet werden kann.
Es sind nur
einzelne allgemeine Bemerkungen, die ich hier gebe und die Euer Excellenz als
Streiflichter über ein Gebiet gnädigst betrachten wollen, das in Folge der
stattgefundenen Diskussionen so verworren, aufgewühlt und getrübt erscheint, daß
es für manchen, der darin nicht ausschließlich und unausgesetzt Umschau hielte,
Mühe bringen muß, wenn er die einzelnen Objekte in ihrer wahren Gestalt und
Stellung zur eigenen Anschauung bringen will. Ich kann aber hier die Bitte nicht
unterdrücken, Euer Excellenz wollen geruhen, mein zweites, vor einigen Monaten
überreichtes Operat einer prüfenden Durchsicht zu würdigen, da ich mich hier
bemühen will, Wiederholungen zu vermeiden, in so weit als es mir bei dem
Umstande gelingen mag, daß mir das Concept des gedachten Operates nicht zur Hand
ist. In diesem so wie in dem früheren Operate vom Mai 1857 wurde durchaus von
Beweggründen und Zwecken ausgegangen, welche konstatierter Thatsachen entbehrt
und bei meinen Bemühungen, zur Lösung der Aufgabe beizutragen, maßgebend gewesen
sind, und zwar im Sinne des Allerhöchsten Handschreibens vom 9. December 1854.
Zur Beurtheilung der Allerhöchsten Sanktion2 vom Jahre 1854 halte ich mich als Verfasser des gedruckten
Operates vom Jahre 1852 nicht für unbefugt. Der Allerhöchste Gesetzgeber
verweist auf künftige Erfahrungen und stellt eine Commission
in Aussicht, welche die Wirkungen der jetzigen Gymnasialeinrichtungen sorgfältig
prüfen und Anträge über Verbesserungen erstatten soll. Aber
eben so hat anderseits die Allerhöchste Sanktion die Bedeutung, daß das neue
System gegenüber dem alten in seiner Gänze
mit Gesetzeskraft ausgerüstet und so der Zustand des Provisoriums und alle die
Thatkraft lähmenden Zweifel beseitigt erscheinen. Die Frage: wird es wieder zum
Alten kommen? sollte hiedurch ein für allemal entfernt werden. Erfahrungen und
Thatsachen sollen Anhaltspunkte liefern, zu bestimmen, ob nicht einige
Einrichtungen, gleichviel ob sie sich auf die Lehrmethode oder die Disciplin
oder die Zahl und den Umfang der Lehrfächer usw. beziehen, einer Veränderung
oder Vervollkommnung bedürfen, mit Ausschluß solcher Anträge, welche auf die
Zurückführung des alten Systems zielen möchten.
1. Sagt man nun, die
vorgeschlagenen Modifikationen seien keine Modifikationen, sondern Aufhebungen
des gesetzlich Bestehenden, so sagt man damit nichts, da jede Modifikation eine
partielle Aufhebung des Bestehenden ist. Wurde doch gegen die Modifikation des
historischen Lehrplanes im Jahre 1850 und des naturwissenschaftlichen im Jahre
1854 das Bedenken nicht erhoben, als läge darin ein Abgehen von grundsätzlichen
Bestimmungen, was doch wirklich der Fall war, viele andere Detailänderungen
nicht gerechnet, die bisher im Lehrplan vorgenommen wurden. Man müßte beweisen,
daß eine Vermehrung der Lehrstunden fürs Latein, eine Herabsetzung der
griechischen Lehrstunden von 28 auf 26, eine Beschränkung der Lehrzeit für
geometrische Anschauungslehre, Physik und Naturgeschichte im Ganzen mit einer
Zurückführung des alten Systems gleichbedeutend sei. Ein solcher Beweis dürfte
schwierig sein.
2. Sagt man ferner, die Prinzipien des
Organisationsentwurfes dürfen nicht angetastet werden, und behauptet man dabei,
daß alle Einrichtungen desselben in strengster Consequenz aus den Prinzipien
abgeleitet sind, so kann man gar keine Abänderung irgend
einer Einrichtung zugeben und setzt dadurch nicht nur den Gesetzgeber mit sich
in Widerspruch, welcher Anträge auf Verbesserungen entgegen nehmen will, sondern
muß auch thatsächliche Schäden auf sich beruhen lassen. Wurde doch die
Allerhöchste Bestimmung, „dem Latein ist eine besondere Sorgfalt zu widmen“, so
gedeutet, daß damit die Vermehrung der Lehrstunden ausgeschloßen und nur den
Lehrern eine Weisung zur besseren Behandlung des Gegenstandes gegeben sei.
3. Wenn der Grundsatz des Organisationsentwurfes, „das Untergymnasium sei auch
eine Vorschule für die Oberrealschule und für praktische Lebenszwecke zu
betrachten“, aufgegeben werden will, so ist das nicht ein Aufgeben eines
Prinzips, sondern ein Fallenlassen einer Nebenrücksicht, und wäre es auch nicht
so, nun dann behaupte ich, dieses angebliche Prinzip müsse fallen. Ich
appelliere an alle Erfahrungen, die Preußen,
Baiern u.a. in neuester Zeit gemacht, und an
die Stimmen aller pädagogischen Koryphäen, (die auch Philosophen sind) wornach
der Werth dieses Grundsatzes entschieden in Abrede gestellt wird. Das Gymnasium
hat vollauf zu thun, wenn es seinen spezifischen Zweck erreichen will; es wird
ihm dieses unmöglich gelingen, wenn es bei jedem Schritte nach zwei Seiten
schielt und sowohl dem Utilitätsprinzipe der Realschule als dem Idealzwecke des
Gymnasiums gerecht werden will. Mit dem Aufgeben dieses Seitenblickes fällt auch
die Nothwendigkeit einer durch alle 4 Jahre des Untergymnasiums fortgesetzten
Behandlung der Naturwissenschaften und der Anschauungsgeometrie.
4. Man hat
vollkommen Recht, wenn man sagt, jedes Wissen müsse der Jugend in gewissen
Abstufungen zugeführt werden, und der Organisationsentwurf unterscheidet aus
guten Gründen den Anschauungsunterricht im Knaben- und den wissenschaftlichen
Unterricht im Jünglingsalter. Kein Pädagog wird dies läugnen. Allein es folgt
aus diesem Grundsatze weder, daß der Anschauungs- oder elementare Unterricht in
jedem Fache 3–4 Jahre oder gerade so lange wie der nachfolgende
wissenschaftliche Unterricht währe, noch daß er in allen Fächern gerade im
Untergymnasium abgeschlossen werden müsse. Die strenge Scheidung des Unter- und
Obergymnasiums ist nur etwas Äußerliches; die innere Ordnung richtet sich nach
dem ganzen Unterrichtsziele, das einem achtklassigen
Gymnasium vorgesteckt ist. Endlich kommt es, wo es sich um Durchführung
eines theoretisch auch vollkommenen Systems handelt, auf die gegebenen Bedingungen der Zeit, der Leistungsfähigkeit der Jugend usw.
an, worüber man sich in keinem Falle hinwegsetzen darf, und wobei man sich
manche theoretische Unvollkommenheit gefallen lassen muß, wenn dadurch
praktische Erfolge gefördert werden. Es ist nicht räthlich, pädagogische
Prinzipien bis in ihre äußersten Consequenzen zu verfolgen; je mehr man das
thut, desto mehr wird man durch den schneidenden Kontrast überrascht, der sich
zwischen dem ausgebauten System und dem Individuum, zwischen der Theorie und den
Bedingungen der Praxis vor Augen stellt. Der Altmeister der Pädagogik, der
Heidelberger Schwarz,
dessen Werke jeder Lehramtskandidat, der pädagogisch lehren will, fort und fort
studieren sollte, und dem ich es verdanke, daß ich den Organisationsentwurf bei
seinem Erscheinen als einen längst ersehnten lieben Freund begrüßen konnte,
derselbe Schwarz wickelt
aus der Idee der Harmonie der Bildung konsequent für 11–13jährige Zöglinge 56
wöchentliche Lehrstunden heraus. Gott bewahre jedes gesunde Kind vor solcher
Consequenz!
5. Es ist nicht genug, die Forderung zu formulieren, was der
Schüler soll, es muß im Ganzen und auf jeder Stufe die Frage gestellt werden,
was er kann. Es ist ein Naturgesetz, das keines Beweises
bedarf: Je vielseitiger wir die Bildung der Jugend gestalten und je mehr wir
diese Bildung in allen Richtungen beschleunigen, desto oberflächlicher muß sie
sein. Jede Ausdehnung des Unterrichtes, sei es auch ein neues Fach, sei es im
Bereich desselben Faches, ist bei übrigens gleichen Umständen ein Griff in die
Gründlichkeit desselben, also unpädagogisch, für Charakterbildung nachtheilig. Gründlichkeit fordert Beschränkung. Das
erkannte Preußen, Baiern nach mehr als 20jähriger Erfahrung, darnach ringt
gegenwärtig Kurhessen, Hannover. Man
vergleiche die Erziehungsresultate in Betreff der Gründlichkeit des Wissens und
des Charakters bei der französischen und der englischen Nation. Die „public
Schools“ der letzteren betreiben Realien gar nicht. Dennoch bleibe ich bei
meiner im 1. und 2. Operate dargelegten Ansicht, daß der Werth der
Naturwissenschaften auch an Gymnasien über aller Debatte stehe und daß es zu
bedauern wäre, wenn sie so weit zurückgedrängt oder beseitigt würden, wie es in
Preußen und Baiern in neuester Zeit geschehen. Es wird aber mit Rücksicht auf
anderes, das nothwendig ist, und auf die zu Gebote stehende Zeit ein Genügendes
sein, Physik bloß im Obergymnasium und die Naturgeschichte außer der 5. und 6.
Klasse, wenn es je sonst möglich ist, auch in der 1. und 2. Klasse zu belassen.
Sie in die 3. und 4. verlegen, brächte wohl einen Vortheil rücksichtlich der
Continuität mit der 5. und 6. Klasse; allein es steht hier das wichtigere
Bedenken entgegen, daß in der dritten Klasse der Knabe dann 2, wahrscheinlich
drei neue Gegenstände (Griechisch, Naturgeschichte und
Geometrie) aufzufassen hätte; zudem fehlt es gerade in diesen Klassen an
disponibler Zeit, da hier die dringendste Nothwendigkeit der Vermehrung der
Lateinstunden vorliegt. Mit der Vervielfältigung des Schulunterrichtes, mit
seiner Beschleunigung in jedem einzelnen Fache häufen sich die Leiden und
Klagen: der Stoff wächst von Tag zu Tag; die Zeit, die zu seiner Beherrschung
und Verarbeitung, Aneignung und Verwendung nothwendig ist,
wird immer kürzer und kürzer zugemessen, immer mehr wird von den Geisteskräften
bloß zur Aufspeicherung in dem Gedächtnisse konsumiert; fünf oder mehrere
verschiedene Vorträge und Übungen täglich, dazu die Vorbereitungen auf eben so
viele Vorträge, die für den nächsten Tag zurecht gelegt werden müssen, lassen
den Geist zu keiner andauernden Sammlung kommen. Ich übertreibe nicht, wenn ich
(auch hier wie in allem nach eigenen mehrjährigen Wahrnehmungen und Thatsachen)
sage: es herrscht seit Jahren ein allgemeines Noth- und Hilfsgeschrei nach
Erleichterung der Schulanforderungen, die das geistige und leibliche Wohl der
Jugend bedrohen, die auf eine Bildung gerichtet sind, die im vielfältigen
Wissen, aber nirgends im Können wahrgenommen wird. Wer aber die Intentionen des
Organisationsentwurfes und die Grundsätze, von denen er getragen wird, kennt,
der muß behaupten, daß es bei demselben gerade überall auf ein Können, auf Charakterbildung, auf Gründlichkeit und auf Übung der selbstthätigen Kraft, nicht auf
Dressur abgesehen ist. Schon aus diesem Grundsatze ist eine Rückkehr zum Alten
unmöglich. Worin liegt nun der Grund des Widerspruches zwischen dem, was
geleistet werden soll und dem, was geleistet wird? Die Antwort finde ich darin,
daß ein Übermaß der Mittel zu dem vorgezeichneten Zwecke, sowohl was Zahl als
Umfang derselben anlangt, vorschriftmäßig besteht. In dieser Richtung sind daher
Änderungen, i.e. Verbesserungen unumgänglich nothwendig, und zwar nicht trotz
des Organisationsentwurfes, sondern um seinetwillen.
6. Der Behutsamkeit,
mit welcher nicht gerne Änderungen vorgenommen werden, damit nicht allmählig das
Ganze unkenntlich werde, steht die Furcht entgegen, daß einzelne Gebrechen (denn
ich nenne auch das Übermaß des Guten ein Gebrechen) nicht rechtzeitig behoben
werden; Gebrechen, die durch ihren in der Zeit sich summierenden Schaden das
Ganze zu verdächtigen und endlich seinen Umsturz herbeizuführen geeignet sind.
Das ist, ich bekenne es, eine drohende Wirklichkeit, die für mich seit einigen
Jahren, insbesondere seit einem halben Jahr, zu einer pein- und schmerzensvollen
Geißel geworden. Todesfälle und Siechthum unter der Jugend, Vielwisserei und
Altklugheit, Verwünschung des Griechischen als eitlen Krams, Kostspieligkeit der
Bücher und weiß der Himmel was alles noch bilden die Glieder zu einer Phalanx,
die sich immer mehr stärkt zum Umsturz des Neuen, die sich nach dem
Jesuitensystem sehnt, die ihre Mitglieder in den Familien aller Schichten der
Bevölkerung und aller Stände zählt. Ich übertreibe nicht; ich habe für jede
Behauptung thatsächliche Detailbegründung; auf meinen Inspektionsreisen erfüllte
ich wahrhafte Missions- und Bekehrungspflichten. Aber eben deshalb sehne ich
mich nach Beseitigung der paar Übelstände, die wirklich vorhanden sind, um zur
Erhaltung des vortrefflichen Ganzen beizutragen. Ich sprach es seit einem ½
Jahre oft aus: Gott beschütze den Organisationsentwurf vor seinen Freunden;
gegen die Feinde hoffe ich mit Gottes und Eurer Excellenz Hilfe ihn wie bisher
so auch fernerhin nicht ohne Erfolg vertheidigen zu können.
Es mag mir
gestattet sein, noch die Lateinfrage im Nachhange zu der im 1. und 2. Operate
enthaltenen Darlegung mit einigen Bemerkungen zu beleuchten.
7. Die
Nothwendigkeit einer Vermehrung der Lateinstunden ist außer Zweifel. Nicht nur
ist die Begründung hiefür, die meinem 1. und 2. Operate dargelegt ist, durch die
öffentlichen Diskussionen nicht geschwächt, sondern gestärkt worden, so daß auch
am Obergymnasium eine Vermehrung der Lehrstunden zur Nothwendigkeit wird. Der
bisherige Unterrichtserfolg weist unverkennbar darauf hin, daß, wenn das Ziel
der Aufgabe, das sich nicht herabsetzen läßt, wirklich und sicher und mit einem
besseren Endresultate als mit 1/6 oder 1/5 der Schüler (siehe die Statistik im
2. Operat) erreicht werden soll, die gegenwärtige Stundenzahl nicht genügt.
Feste Erlernung, gründliche Einübung, fertige Geübtheit ist nach der bisherigen
Erfahrung nicht vorhanden und kann es auch nicht sein. Wer anders behauptet,
will durchaus nicht sehen, was offen vor Augen liegt.
8. Es verdient nicht
ein Wort der Entgegnung, (sagt Schulrath Wilhelm nicht in der Zeitschrift, sondern in einem Bericht) wenn
sich Stimmen und unter Berufung auf eine Erfahrung, die freilich auch Erfahrung
heißen kann [sic!], vernehmen lassen, daß das Untergymnasium genug leiste und
vielmehr am Obergymnasium geholfen werden müsse, d.h. daß man dem Bau auf
lockerem Grunde durch Befestigung von oben Haltbarkeit geben müsse. Ein Blick in
die Compositionen wird auf jeder Stufe den Sitz des Übels in den Grundlagen
erkennen lassen.
Ich behaupte: Wo durch alle 8 Jahre die Grammatik im
Vordergrunde steht und etwa noch im letzten Jahrgange die Rektionslehre
wiederholt werden muß, so daß der Schüler kaum zu einer sicheren, viel weniger
zu einer gewandten in die Tiefe dringenden Auffassung des Textes und aus Mangel
an eigenen Versuchen in Nachahmungen auch nicht zu einem
lebendigen Gefühle der Kunstform gelangt, da ist freilich allen Angriffen gegen
den lateinischen Unterrichtserfolg und gegen das „ewige Lateinlernen“ Thür und
Thor geöffnet. Bei der Frage also, ob der Unterricht in irgend einem Fache
rücksichtlich seines Umfanges oder der ihm zu widmenden Lehrzeit zu beschränken
sei, wird das Interesse der klassischen Sprachen zunächst
gewahrt werden müssen. (Es war eben nur die leidige Zeitfrage, die mir das
Mittel räthlich machte, die griechischen Lehrstunden von 28 auf 26
herabzusetzen.)
9. Man gefällt sich darin, die minder günstigen Erfolge bei
diesem Unterrichte durch Unfähigkeit der Lehrer oder durch Mangel an gutem
Willen, durch häufigen Wechsel derselben, durch Überfüllung der Schulklassen,
durch die Schwierigkeiten des Überganges aus dem Alten in das Neue zu erklären.
Allein ich frage: Trafen alle diese Übelstände nicht auch den Unterricht in
allen übrigen Fächern, nicht auch den Unterricht im Griechischen? Gleichwohl wird das Endresultat im Griechischen
allgemein gepriesen. Das ist befremdend, zumal das Griechische von außen her im
Verkehr wenig Anklang, Beförderung, Aufmunterung, eher das Gegentheil findet.
Der Fleiß des Schülers ist da ganz allein auf die von der Schule ausgehenden
Anregungen angewiesen. Für den Unterricht im Latein überkam das neue System vom
alten ohne Widerspruch tüchtigere Lehrkräfte als für das Griechische, wenigstens
vorbereitetere Candidaten. Beide Fächer litten unter denselben
Übergangsmißlichkeiten und lagen und liegen in derselben
Hand, und doch sind die Erfolge im Griechischen gegen früher glänzend zu nennen.
Die Methode ist ferner beim Latein wie beim Griechischen eine durchaus andere,
bei beiden dieselbe geworden. Wo liegt der Erklärungsgrund? Darin allein kann er
liegen, daß das neue System gegenüber dem alten die Lateinstunden in 8 Klassen
wöchentlich von 64 auf 47 herabgesetzt, die griechischen Stunden von 8 auf 28
gesteigert hat. Dazu kommt, daß Lesen einer Sprache, wie es beim Griechischen
Aufgabe ist, und Lesen und Gebrauch einer Sprache in Schrift
und Rede, wie es beim Latein sein soll, zwei intensiv und extensiv sehr
verschiedene Dinge sind.
10. Viele Stimmen machen davon Rühmens, daß die
Schüler am Obergymnasium einen leichten lateinischen Klassiker mit Erfolg und
Verständnis lesen und zu übersetzen vermögen und daß daher der Unterrichtserfolg
zufriedenstellend sei. Wenn sich Laien so äußern, so ist das begreiflich; wenn
aber von einigen Schulräthen und Lehrern eine solche Äußerung ausgeht, so ist
das, milde gesagt, leichtsinnig gesprochen, da hiebei die ganz gerechten
Forderungen des Organisationsentwurfes übersehen werden, wornach Lesen und Gebrauch der Sprache etc. erreicht werden soll. Die
Resultate im Latein sind wirklich ungünstig, weil die Forderungen des
Organisationsentwurfes und auch der gelehrten Welt dasjenige Maß von Übung der
Sprache überschreiten, das dem Schüler nach der bestehenden Einrichtung zu theil
wird, und weil diesem Maß der Übung, wenn diese berücksichtigt werden will,
nicht die ausreichende Zeit geboten wird. Zu einiger Gewandtheit in dem
lateinischen Umguß des deutschen Gedankens, wie sie der Organisationsentwurf
verlangt und jeder Schulrath bei der Maturitätsprüfung zu finden wünscht und
jeder außer der Schule stehende Gelehrte zu finden hofft, müssen ausgiebigere
Mittel angewendet werden als diejenigen, welche der Organisationsentwurf an die
Hand giebt. Es müssen die Bedingungen hergestellt werden, die erforderlich sind,
damit die in unzähligen Ministerialerlässen enthaltenen instruktiven Weisungen
befolgt und die Normalien in Betreff der Vereinigung mehrerer Lehrfächer am
Untergymnasium in der Hand des Ordinarius, in Betreff der Gleichheit der
Terminologien beim Sprachenunterrichte überhaupt, in Betreff der zahlreicheren
schriftlichen und mündlichen Schulübungen, endlich in Betreff der Verhütung der
Überbürdung gehörig und wirklich ausgeführt werden, damit endlich die viel
gebrauchten, vom Organisationsentwurf grundsätzlich festgestellten Redensarten
„multum non multa – langsam und sicher“ zur That werden. Dazu ist Concentration
des Unterrichtes nothwendig; tritt diese ein, dann wird es auch möglich die
Schwierigkeiten beim Latein, wie es sein soll, gleich im Anfange über den Haufen
zu rennen; nur unter diesen Bedingungen wird der fortwährende Kampf mit solchen
Schwierigkeiten aufhören. So lange aber an den 10-13jährigen Knaben 6 Lehrer
herantreten, jeder mit bestimmten Forderungen, von denen er sich nichts oder
doch nicht viel abzwingen lassen darf, so wird das vorgeschriebene
Klassenordinariat immer eine Scheinexistenz bleiben, man mag immerhin bei allen
das kollegialste Einverständnis und das größte Interesse für die Schule
voraussetzen; denn es kann sich doch keiner in der Disposition seines
Lehrstoffes, in dem Gange und der Methode seines Unterrichtes von dem anderen
ins Schlepptau nehmen lassen. Es wird eine solche Anordnung der Gegenstände und
ihrer Behandlung, daß einer den anderen unterstützt, dem andern vorausbaut oder
das Vorgebaute rechtzeitig weiter führt, wohl immer – sammt den dazu gehörigen
Voraussetzungen – unter die Ideale gehören, und die Erfolge in den meisten
Gegenständen, insbesondere im Latein, werden weit hinter den Anforderungen des
Organisationsentwurfes zurückbleiben.
11. Es haben sich einige Stimmen auch
dahin ausgesprochen, daß sich die Lehraufgabe des Lateins in der 1. und 2.
Klasse in der bisherigen Stundenzahl erreichen lasse. Ich glaube dies; allein wo
diese Aufgabe erfüllt wurde, da ist (auch darüber habe ich Thatsachen) die
Selbstthätigkeit und die freie Zeit der Knaben über das vom Organisationsentwurf
festgesetzte Maß hinaus sowie zum Nachtheile anderer Gegenstände mit
schriftlichen und mündlichen Übungen in Anspruch genommen worden. Wo das nicht
geschehen, und der Lehrer behauptet die Lehraufgabe erfüllt zu haben, wie kommt
es dann, daß bei denselben Schülern, wenn sie in die 3. und ff. Klassen kommen,
über das Schwanken bei der Anwendung ihrer grammat. Kenntnisse geklagt wird? Der
Grund davon liegt aber in der nothwendigen Weise übereilter Bewältigung des
Lehrstoffes der 1. und 2. Klasse; der Lehrer begnügte sich mit dem Wissen und
glaubte damit auch schon das Können erreicht zu haben. Die Forderung des
Organisationsentwurfes geht nicht nur auf Kenntnis der Formen, sondern auf
Sicherheit und Leichtigkeit in Anwendung derselben, also überall auf ein
Können.
Ein Vergleich: Man lasse irgend eine
romanische Sprache die erste sein, die ein Knabe lernt, man
lehre sie auf grammatischem Wege, niemand spreche dieselbe
weder im häuslichen Leben noch beim Unterrichte; man beschäftige dabei denselben
Knaben noch mit 5–8 anderen Fächern, so daß die schriftlichen Übungen, welche in
einem kurzen Zeitraum vereinigt eine ausgiebige Wirkung hätten, nun 14 Tage (am Obergymnasium 4 Wochen) weit auseinander geworfen
werden, innerhalb welcher sich ein mannigfacher Lehrstoff mit seinen Übungen
einschiebt; man lehre endlich so nicht einen, sondern 50 Knaben auf einmal, und
man wird am früheren oder späteren Ende nur von den Wenigsten (d.i. von den
Talentvollen) korrekte schriftliche Arbeiten erhalten, trotzdem daß bei dem
romanischen Sprachbau es weniger Schwierigkeiten giebt als beim
Lateinischen.
Der Grund liegt darin, daß man in Ermangelung der Zeit die
Einübung einer Form oder Regel nur für den Augenblick, nicht aber in
zureichender Ausdehnung in dem Maße vorgenommen hat, um die vom
Organisationsentwurf geforderte Fertigkeit dem Schüler zum bleibenden Eigenthume
zu machen. Es verhält sich mit dieser Fertigkeit gerade so wie bei einem
Mechanismus. Eine mechanische Vorrichtung ist den Schülern bald erklärt, faßlich
gemacht und in ihren Bestandtheilen gezeigt. Die Schüler lernen die Erklärung,
und wenn sie diese herzusagen wissen, glaubt man, jetzt sei alles gethan. Wenn
der Schüler diese Vorrichtung aber nicht nur kennen, sondern geschickt
gebrauchen lernen soll, so muß sie öfters auseinander genommen und wieder
zusammengesetzt werden, so lange bis er selbst damit ohne Verlegenheit umzugehen
weiß. Dazu gehört aber Zeit. Diese fehlt aber gegenwärtig dem Latein in dem
erforderlichen Maße. Dieser Vergleich, auf den Lateinunterricht angewendet,
macht es begreiflich, warum, wie seit Jahren geklagt wird, immer von einer
Klassenstufe zur höheren ein Rückgang in der grammatikalischen und syntaktischen
Fertigkeit der Schüler wahrgenommen wird. Denn wo der Grund auf lockerem Boden
gelegt worden, da wird der Einsturz immer drohender, je höher gebaut
wird.
Auch auf der im 1. und 2. Operat dargelegten und motivierten Ansicht
glaube ich beharren zu müssen, 12. nämlich daß Übungen im Lateinreden in den oberen Klassen Platz greifen sollen. In einer
solchen Übung kommen die grammatikalischen Regeln und der Sprachgebrauch in
einem fort auf das vielseitigste und mit dem geringsten Zeitaufwande zur
Wiederholung. Jede in lateinischer Sprache an den Schüler gestellte Frage
(versteht sich bei Erklärung und Lektüre der Klassiker) ist für denselben eine
Stilübung, die Antwort des Schülers wird sogleich vom Lehrer zum Frommen der
ganzen Schule weit erfolgreicher als mit dem Rothstift auf den Theken
korrigiert. Ich weiß, daß ich hierin einen heikligen Punkt berühre; (weshalb ich
auch zur Vermeidung unnötigen Lärmens bat, daß bei Veröffentlichung der
Modifikationsanträge der darauf bezügliche Passus weggelassen werde); man könnte
mir den Wunsch unterschieben, etwas anzuempfehlen, was glücklicherweise
beseitigt ist, nämlich die erbärmliche deutsch-lateinische Sprachmengerei, oder
wie Schulrath Haas es nannte, das Husarenlatein. Ich bin hievon sehr weit
entfernt; doch glaube ich, daß man, indem man dieses Übel beseitigte, wie es
denn zu geschehen pflegt, wieder zu weit gegangen ist und sich mit der Erwartung
getäuscht hat, der Schüler werde dadurch, daß er mehr liest und gelehrt über die lateinische Sprache reden hört, das Schreiben und
Reden dieser Sprache auch erlernen. Jener strenge Purismus, der wohl verstanden
und wohl geübt seine Berechtigung hat, schüttet, indem er das Lateinreden am
Gymnasium sozusagen ganz verpönt, das Kind mit dem Bade aus. Was ich davon
halte, unter welchen Bedingungen diesem pium desiderium zu genügen wäre und
welche Authoritäten für diese Ansicht einstehen, habe ich in meinem 1. und 2.
Operat angedeutet. Nur wenn die in diesen Operaten angedeuteten Bedingungen beim
Lateinunterrichte erfüllt werden, wird die Lektüre am Obergymnasium, weil nicht
beständig durch Grammatikalien gehemmt, rascher vorwärts schreiten, die
Aufmerksamkeit des Jünglings wird sich dem realen Inhalte zuwenden können, und
wir werden dann – aber auch nur dann – an die Abiturienten die Forderung des
Organisationsentwurfes stellen dürfen, daß er „Sinn für stilistische Form der
lateinischen Sprache und dadurch für Schönheit der Rede überhaupt, insbesondere
durch eine Übersetzung eines deutschen Aufsatzes bewähre, in welcher sich
Sicherheit in der Grammatik und einige Gewandtheit in Vergleichung der
Ausdrucksform der Muttersprache mit der lateinischen“ kund giebt.
13. Noch
eine Bemerkung will ich mir erlauben. Es wird in den seltensten Fällen gerathen
sein, einen und denselben Lehrer für das Latein (wie für ein Sprachfach
überhaupt) sowohl im Unter- als im Obergymnasium oder bald in diesem bald in
jenem zu verwenden. Dieß ergiebt sich aus dem Unterschiede der beiden
Lehrabtheilungen rücksichtlich des Unterrichtszweckes. Was nämlich beide Lehrer
zu ihren spezifischen Zwecken brauchen, ist ein Verschiedenes. Der Lateinlehrer
am Untergymnasium braucht vor allem Routine, jener am Obergymnasium vor allem
Geist. Jener muß ein lebendiges Füllhorn von Leitzielen sein, um sogleich jede
vorkommende grammat. Unsicherheit durch Gegenstellung verschiedener Fälle zu
beheben; dieser muß seinen Klassiker vollständig in sich aufgenommen und
geistig, fachlich verarbeitet haben, wenn er den Schüler lehren soll, denkend zu
lesen. Für Beides zugleich aber, grammatische Routine und geistvolle Lektüre,
dürften die wenigsten Männer genügen. Viel häufiger kommt es vor, daß die
Standpunkte verwechselt, daß nämlich die Aufmerksamkeit des Jünglings mit
Grammatikalien (weil es leider oft sein muß) abgenützt, und mit Knaben von den jungen, sich übergelehrt dünkenden Lehrern
wissenschaftliche Philologie getrieben wird.
Aus den voranstehenden Bemerkungen wollen Euer Excellenz gnädigst erkennen, daß
ich nicht anders kann als zu bekennen, daß Verbesserungen wirklich Bedürfnis
sind, wozu aber thatsächliche Übelstände drängen.
Die feststehenden
Thatsachen (Vgl. Operat 1. und 2.) sind:
I. Der verhältnismäßig ungünstige
oder mindererhebliche Fortschritt im Latein.
II. Das lückenhafte Wissen der
Schüler, was das topographische und politische Element der Geographie
anbelangt;
III. Die Überbürdung der Jugend zum unausbleiblichen Schaden für
ihr geistiges und leibliches Wohl, wobei drei Faktoren vereinzelt oder mehr oder
weniger gemeinschaftlich mitwirken, nämlich:
a. die große Anzahl der
Lehrstunden,
b. die Anzahl der Gegenstände in der einen oder anderen
Klasse,
c. die Umfänglichkeit des für jede Klasse in jedem Gegenstande
vorgezeichneten Lehrstoffes.
Darin ist auch schon die Wahl der Wege
bezeichnet, auf welchen die Mittel der Abhilfe zu suchen sind, nämlich:
ad
I. Vermehrung der Lehrstunden für das Latein, um durch Vermehrung der mündlichen
und schriftlichen Schulübungen die Erreichung des vorgesteckten
Unterrichtszieles zu ermöglichen.
ad II. Beschränkung des historischen
Lehrstoffes und Herstellung geeigneter Schulbücher für Geschichte und Geographie, selbständige Geltung der letzteren.
ad III. Je
nach der Geltung des einen oder anderen Faktors (a, b, c) entweder Verminderung
der Stundenzahl in dem einen oder anderen Gegenstande der einen oder anderen
Klasse oder das Fallenlassen des einen oder des anderen – nicht absolut
nothwendigen – Gegenstandes in der einen oder anderen Klasse, endlich in jedem
Falle und durchgängig Herabsetzung der Unterrichtsaufgabe, d. h. Beschränkung
des Lehr- und Lernstoffes auf das Nothwendigste und Wesentlichste mit Rücksicht
auf die dafür erübrigte Zeit, und zwar bei allen Gegenständen mit Ausnahme der
Sprachfächer.
Das sind die festen, seit Jahren unausgesetzt betonten, daher
nicht wegzuraisonnierenden Punkte, von welchen eben die im Ministerialprogramm
enthaltenen Modifikationsvorschläge ausgegangen sind. Jenen Punkten muß ich
unwandelbare Giltigkeit zuerkennen, weil sie konstatierte, allgemein verbreitete
Erscheinungen sind, während die Vorschläge, eben weil sie nur Vorschläge sind,
auf keine absolute Werthschätzung Anspruch machen können und nur als ein Objekt
zum Reiben der Meinungen hingegeben wurden, damit dadurch die Auffindung
besserer, zweckdienlicherer Abhilfsmittel erleichtert werde. (Daß in dem
Programm der Punkt der Überbürdung nicht ausdrücklich betont wurde, geschah
absichtlich, um nicht bei der vorausgesehenen Veröffentlichung des Programms den
seit 7 Jahren anhaltenden, jedoch auf allerlei Wegen beschwichtigten
öffentlichen Unwillen zum allgemeinen Ausbruch zu bringen.)
Je mehr ich nun
von dem innigsten Wunsch durchdrungen war, es möchten in den Gutachten der
Schulräthe und in der Gymnasialzeitschrift Ansichten und Vorschläge zum
Vorschein kommen, welche die gedeihliche Entwicklung der Frage fördern, um so
lebhafter muß ich auch heute noch bedauern, das Resultat dem wichtigen Interesse
der Sache wenig entsprechend, ja vielseitig dasselbe gefährdend gefunden zu
haben. Die wenigen gut gemeinten Artikel sind einseitig, fassen nur einen
Gegenstand ins Auge, unbekümmert um die berechtigten Forderungen anderer
Interessen. Einige Artikel gehören Verfassern an, von denen, da sie kaum die
Lernjahre zurückgelegt haben und in der Praxis erst anfangen zu lernen, sich
jede Behörde gescheut hätte, einen Rath zu holen. Andere gehören jenem, zu offen
dargelegten faktiösen Geiste an, von dem auch die Artikel anderer Blätter und
namentlich der allgemeinen Zeitung eingegeben waren, und sind in einem Tone
abgefaßt, der die Lehrkörper desorientierte, das Publikum stutzig machte und
vielseitig aufreizend wirkte, weil immer auf „jene Partei“ zielend, so daß
mehrere derselben bei der obersten Polizeibehörde notiert wurden. Es verbreitete
sich ferner in den Provinzen die Ansicht, daß Ton und Inhalt jener Artikel im
Sinne und nach Wunsch des Ministeriums abgefaßt wurden; erhielt doch die
Invektive gegen das lateinische Tyrnauer Programm die Deutung, daß jene
Invektive eine versteckte Antwort des Ministeriums gegen
den Fürstprimas sei: die ganze öffentliche Diskussion charakterisierte sich
nicht nur durch diejenigen, welche geschrieben, von denen ein paar ihren eigenen
verächtlichen Charakter bloß stellten, sondern noch mehr durch das Schweigen
derjenigen, die sonst die lauteren und hervorragenden Mitarbeiter der
Zeitschrift waren. Doch es ist mir nicht um Personen, sondern um die Sache zu
thun, bei welcher persönliche Beziehungen nur insoferne Platz greifen dürfen,
als sich darnach der Werth der Ansicht und der Grad des Vertrauens ermessen
läßt, das jeder Artikel verdient.
Es bleibt mir daher nichts übrig, als zu
dem Standpunkte, von dem die Frage losgelassen wurde, zurückzukehren und
vorzuschlagen, daß das der Berathungscommission vorzulegende
Programm die obige Fassung (I, II, III/a, b, c) erhalte
und daß derselben die Aufgabe gemacht werde, sich über solche Mediationen zu
einigen, die jenen praktischen Postulaten genügen, wobei immerhin die
darüber laut gewordenen Ansichten und Gutachten ihre Verwerthung finden
mögen.
Schließlich füge ich die Bitte bei, Euer Excellenz wollen
rücksichtlich meiner Stellung zu dieser Frage mir einige Bemerkungen gnädigst
gestatten, die ich der Achtung vor mir selbst, dem Dienstverhältnisse, in dem
ich zu Eurer Excellenz so glücklich bin zu stehen, und dem dankbaren Gefühle
schuldig bin, das gegen Euer Excellenz nie erlöschen kann und darf.
Nicht
Anmaßung, nicht Einbildung, am allerwenigsten Eitelkeit ließen mich Hand anlegen
an die von Seiner Majestät befohlene Einleitung zur Entscheidung der
vorliegenden Frage. Das Pflichtgefühl und die Achtung vor mir selbst bestimmten
mich dazu. In jeder Andacht preise ich dankend Gott für die Schule des Lebens,
in welcher Er mich seit meinen Knabenjahren mit einer Fülle von Prüfungen und
bitteren Heilmitteln erzogen, um mich dahin zu bringen, was ich gegenwärtig bin.
Kein Gebiet des Wissens blieb von mir unversucht, soweit die Wissensgebiete an
der Prager philosophischen Fakultät und an der Technik als obligate und unobligate Fächer vertreten waren. Ich kandidierte früher
für Mathematik, Physik, später für Geschichte, Philologie und Ästhetik, und im
Lehramte lebte ich mit meiner ganzen Zeit den Studien. Gott pflanzte in mir den
Grundsatz ein, immer anzustreben, das ganz zu sein, was ich sein soll. Seit 8
Jahren bin ich Amtmann und lege vor Gott trostvoll die Rechenschaft darüber ab,
daß ich redlich bemüht war, ganz, mit allen meinen Kräften und meiner ganzen
Zeit meine Amtspflichten zu erfüllen und habe daher, weil ich nicht anders
konnte, wissenschaftliche Studien aufgegeben. Acht Jahre darin so viel als
nichts thun, ist ein gewaltiger Rückschritt und ich bedaure, daß ich aufgehört habe,
ein Jünger der Wissenschaft zu sein und dafür mit Gottes und Eurer Excellenz
Hilfe ein nicht unbrauchbarer Beamter geworden. Allein das Urtheil, das ich in
den meisten Lehrgegenständen des Gymnasiums früher hatte, habe ich nicht ganz
verloren; was ich aber mir ungeschwächt erhalten, das ist die Erfahrung einer
mehr als 30jährigen pädagogischen und didaktischen Praxis, der auch immer, um
dem Zerrbilde eines Routinier zu entgehen, eingehendes Studium pädagogischer und
didaktischer Werke bis auf die neueste Zeit zur Seite ging. Es dürfte mir daher
Niemand verargen, wenn ich auf dem Boden der didaktischen und pädagogischen
Fragen mich von einer Stellung, die ich darin nach meiner Überzeugung einnehme
und die zu meinem Troste von der bedeutenden Majorität pädagogischer
Notabilitäten und Praktiker eingenommen wird, nur bei überwältigender Wucht von
Gegengründen verdrängen lasse. Meine Praxis in dieser Beziehung ging ferner in
den Schulen und Privathäusern verschiedener österreichischer Provinzen vor sich
und ich habe darin zu prakticieren noch nicht aufgehört. Ein Theil dieser Praxis
gehört der neuesten Zeit an, in welcher die Gymnasialfrage diskutiert wird. Ich
litt dabei viel, weil mein Gemüth zugleich von unausgesetzten Krankheitsfällen
in meiner Familie erschüttert wurde. Wie immer fand ich auch hier in meinen
Erhebungen zu Gott stets den stärkenden, aufmunternden Trost, daß alles, auch
Schlimmes, zum Besten der Sache geschehe. Das Gesagte mag nun das Entstehen der
oft citierten Operate erklären und begreiflich machen, warum ich diese Sorge
nicht anderen überließ.
Aber auch mein Pflichtgefühl ließ es nicht anders
zu. Ich weiß es und wurde von Manchem auch daran erinnert, wie bequem es sich
ein Referent in solchen Fragen machen könne, nämlich: durch Berufung andere
vorschieben, andere arbeiten lassen, das geistige Material anderer referatsmäßig
zurecht legen und erledigen, gleichgiltig und unbekümmert was daraus werde, Wohl
oder Wehe, wenn nur der Akt erledigt wird, keine neuen Nummern und dadurch sich
neue Sorgen schaffen, sondern nur einlangende Nummern büreaukratisch
absolvieren. Es mag solche Beamte geben, ich aber bin von der Vorsehung nicht zu
einem solchen Beamten geformt worden, auch glaube ich nie mehr anders werden zu
können, nämlich daß ich aufhörte, bei jedem Akt Freud oder Leid mitzuempfinden,
das Amtsinteresse zu meinem eigenen zu machen. Wenn ich auch manche, vielleicht
viele Unvollkommenheiten mir im Amte zu Schulden kommen ließ, dessen bin ich
gewiß, daß Euer Excellenz an meiner Hingebung für die Sache, an meinem redlichen
Willen nicht zweifeln, da ich ja mehrmal gütigst gemahnt wurde, mir nicht alles
so sehr zu Gemüthe zu führen.
Und diesem meinem Wesen blieb ich auch bei der
Gymnasialfrage treu. Vermöge meiner Stellung seit 8 Jahren war ich mehr als
irgend einer in der Lage und verpflichtet, in der Durchführung der
Gymnasialreform und für dieselbe zu arbeiten. Das Urtheil über diese Bemühungen
steht nur Eurer Excellenz zu. Alle meine Inspektionsreisen benützte ich
wesentlich auch zu dem Zwecke meiner eigenen Belehrung und Orientierung; ich
lernte in wenigen Tagen Zustände kennen, die den bequem ruhenden Augen der
Schulräthe und Direktoren Jahre lang verborgen blieben, weil sie sich begnügen
mit dem, was man ihnen vorzuführen beliebt, weil sie nicht außerhalb der Schule
forschen, weil sie nicht in das Treiben und das fürs Schulleben Zugehörige den
ursachlich-forschenden Blick werfen. Für alle meine nun in drei Operaten
dargelegten Behauptungen weiß ich Thatsachen anzuführen, natürlich um so mehr
bei solchen Behauptungen, die einen denunciatorischen Beigeschmack haben. Ich
habe seit 8 Jahren in und außerhalb dem Amte fort gekämpft und entgegengewirkt
dem unausgesetzten Andrange, der von Vorurtheilen und Gehäßigkeit gegen das Neue
formiert war; wie ein Vater aber, der sein Kind wahrhaft liebt, gegen kein
Gebrechen, keinen Mackel seines Kindes das Auge verschließt vielmehr darnach
forscht, um durch angewandte Heil- und Besserungsmittel dasselbe vollkommen und
bei allen Menschen im Verkehre beliebt zu machen. So verhielt ich mich gegen den
Organisationsentwurf. Das gehörte nun nicht zu meinem geringsten Leiden, sehen
und erfahren zu müssen, daß der Organisationsentwurf nirgends, nicht beim Adel,
nicht beim hohen und niederen Clerus, nicht beim hohen und niederen Beamtenthum,
Freunde hat und warum? Es geht so wie mit einem Kinde, bei dem man wegen einer
oder paar Unarten die vortrefflichsten reellen Eigenschaften übersieht und wegen
der nicht frühzeitig behobenen Unarten es ganz in Mißkredit bringt, so daß man
es nirgends dulden will. So auch ist der Organisationsentwurf eine Natur,
strotzend von Geist und Kraft und segenverheißender Anlage, aber jedes solches
Übermaß einer Natur hat seine Auswüchse, die, wenn sie in gesellschaftliche
Verhältnisse mitgebracht werden, zurückstoßen; – hat excentrische Erscheinungen,
vor denen die praktische Brauchbarkeit zurückschreckt. Läßt man sie gewähren, so
gehen sie in der praktischen Welt zu Grunde; werden die Auswüchse beschnitten
und die excentrische Kraft nach den praktischen Forderungen der Welt eingedämmt,
dann entfalten sich solche Naturen herrlich, mit Achtung aller und sind
unverwüstlich. Das ist meine Überzeugung, in welcher sich die ungefälschte Liebe
ausspricht, wie sie ein echter Erzieher zu einem Zöglinge hat, dessen
Entwicklung er zu leiten und zu überwachen hat. Ich muß das Bild weiter
ausführen. Wie ein Erzieher, der zu viel fordert und zu hoch und zu umfänglich
das Pflichtenmaß stellt, seinen Zögling entweder zu Scheinleistungen, zu
Täuschungen verleitet, oder wenn dieser sich anstrengt, um allen Forderungen
ganz und gar zu genügen, denselben zu Grunde richtet, so geht es uns wahrlich
mit der Wirksamkeit des Organisationsentwurfes. Es ist Wahrheit, wenn ich
behaupte, daß, wo Lehrer und Schüler sich anstrengen, den Anforderungen gerecht
zu werden, ohne es selbst zu erzielen, die unheilvolle Überbürdung da ist, daß
aber in den meisten Fällen nur Halbes und Oberflächliches flüchtig berührt wird,
nur um den Schein zu retten, nämlich um im Berichte oder Programm sagen zu
können, dies und jenes ist genommen worden. Und doch ist auch in diesem Falle
Überbürdung, gegen welche zwei instruktive Normalerlässe bestehen, nicht zu
vermeiden. So müssen wir uns mehr oder weniger mit Scheinleistungen begnügen,
weil reelle Leistungen, sowohl das Was als das Wie anlangend, nach dem bestehenden Maße den Anforderungen unmöglich
sind. Diese traurige Wahrheit findet auch auf die Klassifikation und auf die
Maturitätsprüfungen Anwendung; wie ich (ich glaube im 1. Operate) angedeutet,
muß endlich der seit 8 Jahren anhaltende Wunsch der Lehrkörper, Schulräthe,
Fakultäten, Eltern, Behörden eine bestimmte Norm über die Klassifikationsweise
erfließen. Um das Übel zu beseitigen, das Gute aber zu erhalten, (niemand hat
mehr als ich für die Durchführung der charakterisierenden
Klassifikation gewirkt und geholfen) sollten die jedem Gegenstande
eigenthümlichen Gefühlspunkte, deren Beachtung beim Unterrichte eben eine
Hauptbürgschaft für die bildende Lehrmethode ist, weshalb ich
sie um keinen Preis fallen ließe, festgestellt und in den Zeugnissen abgedruckt
werden, so daß jeder Lehrer die bei jedem Gesichtspunkte leer gelassene Rubrik
nur mehr mit der Note „gut usw.“ auszufüllen hätte. Dem subjektiven Urtheil, der
Willkür der einzelnen Lehrer darf die Wahl der Gesichtspunkte und der
klassificierenden Ausdrücke nicht überlassen bleiben. Schrieb doch ein Lehrer
des Lateins, der seine Collegen in der Gymnasialzeitschrift gerne meisterte, in
ein Zeugnis: „kaum genügend wegen Vernachläßigung der
Pflichten“; ist nun dieser Schüler reif oder unreif zur Versetzung?
Worin liegt das minder Genügende? In der Kenntnis der Vokabeln oder der
Grammatik oder in der Übersetzung oder in den lateinischen Stilübungen? Im
Publikum wird über solche Noten gespottet, die Fakultäten und die Behörden
klagen keine Cynosur bei Würdigung der Gesuche um Stipendien, Schulgeldbefreiung
usw. zu haben. Ein anderer Lehrer schrieb: „befriedigend wegen nicht
fehlerfreien schriftlichen Arbeiten“. Besonders für das sittliche Betragen thun
bestimmte, an allen Gymnasien gleich bedeutende Ausdrücke noth. An einem
Gymnasium z.B. ist „tadellos“ die beste Note; bei uns, sagte ein Schüler eines
anderen Gymnasiums, erhält diese Note „jeder Lump“, denn die Braven bekommen
„lobenswerth, sehr lobenswerth, musterhaft“.
Eine der schmerzlichsten
Wahrnehmungen ist jene, die ich über die mündliche
Maturitätsprüfung machte. Was nützen die vielen instruktiven Erlässe? Was die
Verfügung, daß Naturgeschichte und Unterrichtssprache als Prüfungsgegenstände
ausgeschieden wurden? Der Organisationsentwurf sagt, es sollen nicht mehr als 15
Schüler an einem Tage geprüft werden. Als ich Schulrath war, prüfte ich von 8–12
und von 2–7 Uhr und schätzte mich glücklich 8 Examinanden zu absolvieren; und so
halten es auch die meisten Schulräthe. Und bei nur 8
Examinanden bleiben bei einem Examinanden für jeden Gegenstand 12
Minuten Prüfungszeit übrig; in 12 Minuten soll also z.B. aus dem Latein, wo die
halbe Zeit mit dem Lesen verbraucht wird, die Maturitas erprobt werden! Kann es
da anders zugehen, als daß dieser bedeutungsvolle Prüfungsakt bei jedem
Gegenstande mit einer Frage und einer Antwort abgethan wird? Läßt sich dagegen
ankämpfen, wenn Gegner der neuen Einrichtungen behaupten, es herrsche bei den
entscheidenden Maturitätsprüfungen mehr Zufall, Flüchtigkeit und
Oberflächlichkeit als bei den in ihren Folgen minder bedeutenden ehemaligen
Semestralprüfungen? Wenn sie sagen, diese Prüfungsart sei nur die
Culminationsphase der durch 8 Jahre anhaltenden Plage, Angst und Qual, wobei
mancher Schwachkopf durchkommt, während manches tüchtige Talent geworfen wird,
weil ihn „eine unglückliche Frage“ getroffen? Das ist schmerzhaft, sich solche
Vorwürfe ins Gesicht schleudern zu lassen und sich nur mit der Antwort behelfen
zu müssen, daß die Schuld in der Ausführung liege, während die ausführenden
Organe wieder sich damit Ruhe schaffen, daß sie sagen, sie handeln nach den
Vorschriften des Ministeriums. Es ist ferner traurig zu sehen, daß die
Leistungen der Maturitätsprüfungen nach einem vorschriftwidrig geringen Maßstab
beurtheilt und klassificiert werden und daß, wo dies nicht der Fall ist, die
Zahl der Approbierten so auffallend klein ist. (siehe Galizien) Und wenn ein
solcher Schulrath an Maßhalten erinnert wird, so bittet er sich nähere Weisungen
aus, da er nicht anders als nach den bestimmten Anforderungen des
Organisationsentwurfes verfahre. Wir haben auch hier Scheinerfolge, mit denen
wir uns begnügen müssen. Diese Frage bedarf dringend einer festeren Begränzung
und mag einen würdigen Berathungsgegenstand für die Schulräthe abgeben. Ich
meines theils sehe keinen anderen Ausweg als Beschränkung der mündlichen
Maturitätsprüfung auf höchstens 4 Gegenstände, und zwar solche, aus welchen eine
spezielle Vorbereitung nicht denkbar und ganz entbehrlich ist. Dann wird das
Wort „Maturitätsprüfung“ in dieser so wie in vielen anderen Beziehungen, die
hier anzuführen nicht der Ort ist, zu seinem wahren Gehalte und zur verdienten
Achtung kommen.
Das sind die wichtigsten Anliegen, die mir im Interesse des
Organisationsentwurfes zu Herzen gehen, die immer und immer wiederkehrenden
Gedanken, die mich beschäftigen seit Jahr und Tag. Sie sind mir werther als die
scharfsinnigsten Betrachtungen, die ein gedrucktes Blatt bringen mag, denn sie
beruhen auf feststehenden thatsächlichen Erscheinungen und zielen aber nur
wieder auf die Praxis und gehören überdies Grundsätzen an, die keine gesunde
Pädagogik verleugnen kann und auch nicht verleugnet hat. Wenn man in den im
Ministerialprogramm dargelegten Intentionen eine Ähnlichkeit mit den
Jesuitengrundsätzen gefunden hat, so beirrt mich das nicht; das Geschwätz, daß
die Intentionen des Ministerialprogramms von „jener Partei“, die auch den
Zeitungstümpel ins Leben gerufen hat, eingegeben und daß hiebei die Vorschläge
unter dem Drucke des Jesuitismus und der Bischöfe verfaßt wurden, kann ich
verachten, da ich in allem nur Eurer Excellenz verantwortlich bin und hierüber
Akten Aufschluß geben. Merkwürdig bleibt, was die Berliner „Zeit“ in ihren
Artikeln über die österreichische Gymnasialfrage gesagt hat, zu welchen ihr die
– mir noch jetzt unbegreifliche – Veröffentlichung des Schreibens des Beks [sic, richtig Beckx] an Euer
Excellenz Anlaß gegeben hat, – sie sagt beiläufig folgendes: Vergleicht man das
Ministerialprogramm mit der Eingabe des Jesuitengenerals, so liegt es mehr zu
behaupten, daß einige Punkte in beiden einander ähnlich sind und daß das
österreichische Ministerium von Jesuitenintriguen und dem durchs Conkordat
übermächtigen Episkopat gefangen genommen ist; wer das behauptet, der muß nur
auch behaupten, daß das ganze protestantische Deutschland von denselben Mächten
beherrscht und geleitet werde, denn im ganzen protestantischen Deutschland ist
man in Wort und Schrift bestrebt, nach denselben Grundsätzen Gymnasialzwecke zu
verfolgen. („Die Artikel der „Zeit“ sind aus dem preußischen
Unterrichtsministerium hervorgegangen, weil diesem die Artikel der
österreichischen Gymnasialzeitschrift sehr unbequem gefallen sind“, Äußerung des
Prof. Bonitz)
Eine Sorge
beschleicht mich noch bei Erwägung dieser Frage. Wenn nicht alle Anzeichen
trügen, so dürfte es nicht lange währen, daß bei Fortdauer der jetzigen Zustände
die Staatsgymnasien und die ähnlichen kirchlichen Institute einander als
ausgemachte Gegensätze gegenüber stehen, und die zwischen beiden ausgebildete
Kluft durch gegenseitiges Mißtrauen Anfeindung und Herabsetzung sich immer mehr
erweitern werde. Mein Gefühl malt mir diesen Zustand, wenn er einträte, als
einen nichts weniger als wünschenswerthen aus und sagt mir, daß die
beabsichtigten Verbesserungen, durch welche wirkliche Übelstände – nicht wegen,
sondern ungeachtet der von Seite der Kirche gehegten Wünsche – beseitigt werden
sollen, die beide Institute und in dieser Beziehung auch Staat und Kirche
einander näher bringen werden.
Ich habe nun meine wichtigsten Sorgen, meine innigsten Wünsche Eurer Excellenz dargelegt, mit jenem Freimuth, der einzig und allein vom fachlichen Interesse eingegeben wird, mit jener Innigkeit, die von meiner unbeschränkten Ergebenheit an die Person und das Wirken Eurer Excellenz unzertrennlich ist, mit jener Offenherzigkeit, die auch den geringsten Rückhalt und das unbedeutendste Sonderinteresse ausschließt. Euer Excellenz werden gnädigst beurtheilen und erkennen, wo mich eine falsche Fährte führt, wo mich Kurzsichtigkeit des Geistes geleitet. Wie ich ursprünglich schon mich frei von jedem äußeren Einfluße gehalten, wie ich Eurer Excellenz später meinen Entschluß kundgegeben, in keiner Weise mich an der öffentlichen Diskussion zu betheiligen, so blieb ich auch bis jetzt. Weder direkt noch indirekt, weder durch mündliche noch durch schriftliche Anregungen habe ich in den Gang der öffentlichen Debatte, in die Formierung der Ansichten der Lehrkörper und Schulräthe eingegriffen; ja ich habe manchen, der die Absicht kund gab, mehrere Artikel der Gymnasialzeitschrift mit beschämenden Thatsachen Lügen zu strafen, davon abgehalten, auch wurde von keiner, also auch nicht von der kirchlichen Seite irgend ein schwächender oder stärkender Einfluß auf mich geübt. Ich blieb frei und getrennt von allen solchen Einflüssen wie ich auch einsam und ferne von allen öffentlichen Berührungen nur für mein Amt und meine Familie lebe und geistige Aufheiterung nur in dem geistig anregenden und vertraulichen Verkehre mit Dir. Demel und Heider als denjenigen Männern suche, deren Geist und Charakter ich achten gelernt habe. Ich weiß nicht, welche Aufnahme dieses Promemoria bei Eurer Excellenz finden werde. Allein aus meiner Erhebung zu Gott, in welche ich auch diese Angelegenheit einbezog, habe ich jedes Mal Ermuthigung und beseligende Ruhe und das aufmunternde Gefühl, daß ich mich nicht für schlechte oder verfehlte Zwecke abmühe, geholt. So habe ich denn auch dieses Bekenntnis vor Eurer Excellenz abgelegt; wollen Euer Excellenz es nicht ungnädig aufnehmen. Ich kann nicht anders, so wahr mir Gott helfe!
Kleemann
Wien, 23. Juni 1858