Der Physiker Viktor Pierre äußert sich über die Eignung des Privatdozenten Wojciech Urbański, Lehramtskandidaten in praktischer Physik zu unterrichten. Pierre betont zunächst, dass er über den Umfang der Venia legendi von Urbański kein Urteil abgeben könne, da dessen Habilitation bereits vor seiner Tätigkeit in Lemberg erfolgt war. Während seines Aufenthaltes in Lemberg kam er jedoch mehrfach mit Urbański in Kontakt und konnte sich so überzeugen, dass dieser fundierte Kenntnisse in mathematischer Physik besitze. Deutlich konnte man dabei den Einfluss der Vorträge von Andreas Ettinghausen erkennen. Dieser Einfluss zeige sich auch in den beiden jüngsten Veröffentlichungen Urbańskis. Andere Arbeiten kann Pierre nicht beurteilen, da sie in Polnisch verfasst sind. Allerdings betont Pierre, dass in den Arbeiten und Gesprächen mit Urbański nur wenige eigenständige Gedanken zu erkennen waren. Pierre erzählt dann weiter, dass er seinen Unterricht in Physik mit Urbański abstimmen wollte, allein jener sah darin eine Beschränkung seiner Lehrfreiheit. Dies führte jedoch dazu, dass Urbański bald keine Hörer mehr hatte. Dennoch will Pierre ihm nicht die Eignung für eine Kanzel der theoretischen Physik absprechen, die Eignung für praktische Physik gehe ihm allerdings vollkommen ab. Außerdem sehe der Privatdozent auf die experimentelle Physik abschätzig herab und zeige gegenüber neuesten Forschungen wenig Interesse. Auch deshalb sei Urbański für den praktischen Unterricht, insbesondere für Lehramtskandidaten gänzlich ungeeignet. Zuletzt dankt Pierre dem Minister für seine Berufung nach Prag und berichtet, dass er das dortige physikalische Kabinett reorganisiert habe.
Euere Excellenz!
Nur nach reiflichem Nachdenken und gewissenhaftester Würdigung aller Umstände,
erlaube ich mir die in Hochdero gnädigem Schreiben vom 17. dieses Monats
gestellten Fragen zu beantworten. Wenn ich vielleicht zu weitläufig scheine, so
bitte ich mich damit zu entschuldigen, daß ich so objektiv als möglich zu
verfahren und Euer Excellenz in den Stand zu setzen wünsche die Gründe, auf
welche ich mein Urtheil basiere, selbst würdigen zu können.
Der
Habilitationsakt Urbańskis fiel in
die erste Zeit meines Wirkens an der technischen Akademie zu Lemberg, als
Zawadzki die Physik an der
Universität vertrat, und ich
habe daher weder damals noch später ein competentes Urtheil über die ganze
Angelegenheit vernommen. Alsbald jedoch kam ich mit Urbański selbst in mehrfache Berührung,
und wir sprachen oft über mathematisch-physikalische Fragen. Durch diesen
persönlichen Verkehr gewann ich die Überzeugung, daß der Betreffende sich sehr
fleißig mit mathematischer Physik befaßt, und in mehreren Zweigen sich
achtenswerte Kenntnisse angeeignet habe. Diese umfassen, so viel ich aus unseren
Gesprächen entnehmen konnte, außer den von dem G. Reg. R. v. Ettingshausen in seinen
Vorträgen über höhere Physik behandelten Parthien (Gaußische Theorie der
Kapillarphänomene, Magnetismus, Statik und Dynamik der Elektrizität und Optik)
auch noch die Fourrier’sche Wärmetheorie und die neueren in die mechanische
Wärmelehre und Elektrodynamik einschlägigen Arbeiten. Auch mit theoretischer
Astronomie hat er sich beschäftigt, doch wurde darüber nicht viel zwischen uns
verhandelt, und scheinen mir seine Ansichten in manchen Punkten nicht völlig
klar und einer zureichenden Kenntnis der objektiven Daten entbehrend. Über diese
Dinge will ich mir indessen kein bestimmtes Urtheil erlauben. Was er sonst noch
gearbeitet, ist mir, weil in polnischer Sprache geschrieben, zumeist unbekannt,
und das Urtheil anderer muß ich hier gänzlich bei Seite lassen. Eine in
deutscher Sprache abgefaßte mathematisch-physikalische Abhandlung in einem
Gymnasialprogramme und das erste Heft seiner eben erscheinenden mathematischen
Physik sind ganz abgesehen von der Frage nach dem geistigen Eigenthume
lobenswerthe Redaktionen der Ettingshausen’schen Vorträge. Selbstständigkeit der Behandlung,
mit Ausnahme rein formeller Nebendinge, hat er indessen weder im Umgange, noch
in seinen mir bekannten Arbeiten entwickelt.
Was seine Verwendung als
Privatdocent betrifft, so war selbe nur so lange von Bedeutung, als Zawadzki, dem die mathematische Analyse
eine terra incognita war, neben ihm als Professor fungirte; von dem Augenblicke
an, als ich meine Wirksamkeit an der Universität begann, war die seine, einzig
und allein durch seine Starrsinnigkeit nur mehr nominell geworden. Ich hatte
nämlich, eine zweckmäßige Vertheilung des Materiales auf zwei Lehrkräfte im
Interesse der Lehramtscandidaten für höchst ersprießlich erachtend, ihm ganz
freundschaftlich vorgeschlagen, wir sollten uns vor Ankündigung unserer Vorträge
über die von jedem von uns zu wählenden Parthien verständigen. Er glaubte darin
eine Beschränkung der Lehrfreiheit zu sehen, und ich ließ ihn ruhig gewähren.
Die leicht vorauszusehende Folge davon, daß er mit den meinigen parallel
laufende Vorträge ankündigte, war die, daß er keine Zuhörer fand, mehrere
Semester gar nicht las und überhaupt nur darum von Zeit zu Zeit im
Lektionskatalog auftrat, um seine Dozentenbefugnis nicht zu verlieren.
Nichtsdestoweniger werde ich jedoch, auf Grundlage meiner persönlichen
Überzeugung mich stets dahin aussprechen, daß Urbański ganz wohl im Stande ist, eine Lehrkanzel der
theoretischen (mathematischen) Physik mit Nutzen zu versehen. Ein minder
günstiges Urtheil muß ich über seine praktische Befähigung fällen. Nicht der
Umstand, daß ihm bisher die Gelegenheit zur praktischen Durchbildung fehlte,
flößt mir Bedenken ein, sondern seine durchaus einseitige, mathematische
Richtung und prinzipielle Geringschätzung der physikalischen Praxis. Arbeiten,
welche keine Differenzial- und Integralzeichen enthalten, sind in seinen Augen
höchst untergeordnete, und seine einseitige Auffaßung des Zweckes und der
Bedeutung der Analysis auf dem Gebiethe physikalischer Forschung dürften Euer
Excellenz daraus entnehmen können, daß er mir gegenüber allen Ernstes
behauptete, alle Ergebnisse mathematisch-physikalischer Untersuchungen seien,
insoferne sie keine Fehlschlüsse enthalten, als solche schon Naturgesetze, die
einer Bestättigung durch die Erfahrung nicht erst bedürften. Auch hält er an dem
Glauben fest: wer auf mathematischem Felde zu Hause sei, werde alles Übrige
leicht von selber treffen. Dies ist aber nach meinen, an mir selbst und an
meinen Schülern gemachten Erfahrungen durchaus nicht der Fall, und gerade in
Galizien habe ich in dieser Hinsicht wenig erfreuliche
Erfahrungen gemacht. Bei hoher Meinung von sich selber erwiesen sich mir die
polnischen Kandidaten, ein paar ehrenvolle Ausnahmen abgerechnet, meistens sehr
unanstellig; den Hang zur Schluderei und Unsauberkeit, der leider! auch
anderwärts zu finden und die Ursache des traurigen Aussehens so vieler
physikalischer Kabinette ist, kann man ihnen mit größter Mühe kaum abgewöhnen,
und ihre Energielosigkeit vermöge welcher sie nur mit Widerstreben dahin zu
bringen waren, sich durch die jedem Anhänger entgegentretenden Schwierigkeiten
von erneuertem Anlaufe nicht abschrecken zu lassen, hat mir oft Verdruß gemacht.
Ich glaube daher, daß gerade unter solchen Verhältnissen zur Leitung der
praktischen Ausbildung der Candidaten ein Mann erforderlich ist, der selbst
tüchtig geschult und seiner Sache in dem Grade gewiß ist, daß er in jedem Falle
die Gründe des Mißlingens eines Versuches schnell und richtig zu erkennen und
die Schüler anzuleiten vermöge, die Fehlerquellen methodisch zu suchen und
sicher aufzufinden. Derlei Eigenschaften erwirbt man sich aber nicht sobald, am
wenigsten aber dann, wenn man bei gänzlicher Unkenntnis der Methode des
Experimentierens, dasselbe einfach als untergeordnete Schaustellung behandelt.
Auch war es nicht bloß mir, sondern auch anderen aufgefallen, daß Urbański nie das geringste Interesse
zeigte, die mitunter höchst wichtigen Erscheinungen, mit welchen die neuesten
Forschungen den Schatz unserer Erfahrungskenntnisse bereicherten, trotz der an
ihn ergangenen Einladungen kennen zu lernen.
Die an der Lemberger Universität bestehende
physikalische Werkstätte ist ebenfalls ein zu berücksichtigendes Institut.
Dasselbe wird nur dann ersprießlich wirken, wenn es unter einer völlig
fachkundigen Oberleitung steht. Mechaniker Leopolder ist nämlich ein sehr fleißiger und tüchtiger Arbeiter,
aber nebenbei ein echtes Wienerkind, dem man zu imponiren verstehen muß, was
eben nur dadurch möglich ist, daß man ihm bei jeder Gelegenheit Beweise von
Überlegenheit auf praktischem Felde liefert.
Alle diese Umstände veranlaßten
mich schon damals, als es sich um die Supplirung der Lehrkanzel handelte, die
Zuläßigkeit Urbańskis nur
bedingterweise zuzugestehen und mein Urtheil dem Professorenkollegio gegenüber
beiläufig in derselben Weise, wie im Voranstehenden, zu motiviren. Ich wurde
deßhalb von gewisser Seite lebhaft angegriffen, aber selbst meine (übrigens
nicht sachverständigen) Gegner konnten nicht umhin einzuräumen, daß meine
Darstellung der Sachlage eine würdevolle und ehrenhafte sei, und ich darf umso
mehr hoffen Euer Excellenz werden in dem Endurtheile: Urbański sei für die praktische
Ausbildung von Lehramtscandidaten bestimmt nicht geeignet, für jede Lehrkanzel
aber, bei welcher diese Richtung nicht in Frage kommt, jedenfalls
empfehlenswerth – nur den Ausdruck der Überzeugung und der Rücksicht auf das
allseitige Gedeihen des physikalischen Unterrichtes in Galizien zu erblicken
geruhen.
Bevor ich schließe, erlaube ich mir noch Euer Excellenz um
Vergebung zu bitten, daß ich es bisher unterließ für das ehrenvolle Vertrauen,
welches mich an die Prager
Universität berief, und die gnädige Zuerkennung eines
Übersiedlungskostenbeitrages untertänigsten Dank zu sagen. Meine pekuniären
Verhältnisse sind durch die Übersiedlung und das dringende Bedürfnis einer
umfassenderen Ergänzung meiner litterarischen Hilfsmittel, zu welcher mir in
Lemberg fast alle Gelegenheit fehlte, so äußerst
beschränkt geworden, daß ich die Kosten einer Reise nach
Wien nicht wohl zu erschwingen vermochte und meine
Konfinierung zu Prag zur schleunigsten Beseitigung des
traurigen Zustandes, in welchem ich das physikalische Museum und Laboratorium
auch hier vorfand, nach Möglichkeit zu benützen gezwungen war.
Indem ich es
wage, Euerer Excellenz Aufmerksamkeit auf den dießfälligen Bericht, welchen ich
demnächst zu unterbreiten beabsichtige, im Vorhinein hinzulenken, habe ich die
Ehre mich in tiefster Ergebenheit zu zeichnen
Euer Excellenz
unterthänigster
Pierre
Prag, 20. Mai 1858