Der Jurist George Phillips äußert sich in dem Aufsatz zur Rolle der wissenschaftlichen Behandlung des deutschen Privatrechts für österreichische Juristen. Zunächst geht er dabei auf die Aufgabe der Rechtsgeschichte ein, die als vorbereitende Wissenschaft die unterschiedlichen Rechtstraditionen in den Ländern des deutschen Bundes herausarbeiten soll. Als wesentliche Aufgabe der Rechtsgeschichte bezeichnet er die Erforschung und den Vergleich von Quellen der partikularen Rechte. Auf der Grundlage der Erforschung dieser Quellen muss allerdings auch eine theoretische Basis für die Beurteilung geschaffen werden, die für alle Rechtstraditionen gültig ist. Er geht dann auch darauf ein, wie eine solche Theorie gewonnen werden kann. Diese Theorie kann dann die leitenden Prinzipien bei der Gesetzgebung herausarbeiten. Phillips denkt, dass erst die Kenntnis dieser Theorie es dem Juristen ermögliche, den Geist des Gesetzes zu erkennen. Außerdem stellt Phillips fest, dass man erst dann das ABGB richtig anwenden könne, wenn die wahren Prinzipien der Gesetze und nicht die vermeintlich natürlichen Grundlagen derselben erkannt werden.
Abgedruckt in: Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962, S. 300–304.
Über die Aufgabe der Wissenschaft des gemeinen deutschen Privatrechts
I.
Die deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte hat die für das gemeine deutsche
Privatrecht vorbereitende Aufgabe, zu zeigen, wie sich der gesammte
Rechtszustand in dem deutschen Reiche respektive in dem Umfange des deutschen
Bundes entwickelt hat.
II.
Das Resultat dieser historischen Entwicklung ist in Beziehung auf das
Privatrecht das: daß das Recht im deutschen Reiche bis zum dreizehnten
Jahrhunderte ein genuin deutsches war, daß dann aber in Folge der Rezeption des
römischen und canonischen Rechtes, und dann des langobardischen Lehnrechtes,
eine Mischung von Rechtsideen und Rechtsinstituten entstanden ist, deren
Inbegriff nicht mehr mit dem Namen: "das deutsche Recht" bezeichnet werden kann,
sondern, "das in Deutschland geltende Recht" zu nennen
ist.
III.
Diese Mischung ist verschiedenartig ausgefallen, es hat aber die heutige
Rechtswissenschaft außer den gemischten Instituten auch noch solche des rein
deutschen und des ungemischten fremden Rechtes zu unterscheiden.
a. Rein
deutsche Institute haben sich in Menge in dem Familienrechte des Adels und dann
des Bauernstandes erhalten; es gehört dahin ferner der Erbvertrag, die
Reallasten und Realrechte, die eheliche Gütergemeinschaft usw. usw. Zu diesen
sind als dann noch solche hinzugekommen, welche sich in Deutschland (Dieser
Ausdruck wird hier nur im Gegensatz zu den österreichischen Staaten gebraucht,
welche zum deutschen Bunde gehören.) selbst, eben erst nach der Rezeption des
römischen Rechtes ausgebildet haben. Dahin gehört das Wechselrecht, dann viele
Institute des Handels- und Seerechtes, die gewagten Geschäfte, die Papiere auf
den Inhaber usw.
b. Ungemischte Institute des fremden Rechtes z.B. die
Testamente usw.
c. Gemischte Institute
α. mit Römischem Rechte:
väterliche Gewalt, das Pfand und Hypothekenrecht, dominium directum und utile,
eine Menge an Verträgen.
β mit canonischem Recht: die Lehre vom Besitz
(actio spolii).
γ. wegen seines gemischten Ursprunges hat sich das
langobardische Lehnrecht viel leichter mit dem einheimischen deutschen Lehnrecht
amalgamieren können, als dies sonst bei den fremden Rechten möglich war; daher
tritt hier die Mischung viel häufiger hervor als dort.
IV.
Das Schicksal der Rechtsentwicklung ist in allen zum deutschen Reiche
gehörenden Ländern, mit Beischluß Österreichs, im Allgemeinen so ziemlich
dasselbe gewesen. Das heutige Recht läßt sich daher überall auf die vier Grundbestandtheile des einheimischen und der drei
fremden Rechte zurückführen. Demgemäß hat auch die wissenschaftliche Behandlung
der einzelnen particularen Rechte eine gleichmäßige zu sein.
V.
Kein particulares Recht – also auch das österreichische nicht – ist
nämlich aus sich selbst verständlich, sondern wird es erst durch die
wissenschaftliche Verbindung mit den Quellen, aus denen es entsprungen ist. Man
hat daher die einzelnen Institute, je nach den Quellen, aus denen sie
hervorgegangen sind, zu zerlegen und eben danach zu beurtheilen.
VI.
Diese Beurtheilung ist sehr leicht in Betreff der aus den fremden Rechten
hervorgegangenen Institute, weil jedes dieser Rechte auf einer abgeschlossenen
geschriebenen Quelle beruht, während bei dem deutschrechtlichen Bestandtheile
eine solche Quelle mangelt, wenngleich einiges dahin gehörige in den
Reichsgesetzen, in der Bundesakte und den nachfolgenden Bundesbeschlüssen so wie
für das Wechselrecht in der in allen deutschen Staaten angenommenen gemeinsamen
Wechselordnung anzutreffen ist.
VII.
Demnach verlangt der sehr umfangreiche deutschrechtliche Bestandtheil in
allen particularen Rechten nicht bloß bei den sub III. a. sondern auch ganz
wesentlich bei den sub III. c. angegebenen gemischten Instituten neue
wissenschaftliche Beurtheilung, die eben nicht aus den Quellen des fremden
Rechtes und nicht aus den particularen Rechte selbst zu schöpfen ist. Bei jenem
rein deutschen Institute tritt dies von selbst hervor, denn was ist wohl für
Erbvertrag, Reallasten, Wechsel, gewagte Geschäfte usw. aus den fremden Rechten
mehr als höchstens eine Analogie, wenn nicht gar ein Verbot zu entnehmen?
Dagegen fußt das Hypothekenrecht allerdings zum Teil auf Römischem Recht, allein
dessen allgemeine sowohl als stillschweigende (gesetzliche) Hypotheken sind
durch die in Deutschland fast überall aufgestellten Prinzipien der Spezialität
und Publizität verbannt. Diese Prinzipien hat – dem Geiste des einheimischen
Rechtes folgend – die neuere Gesetzgebung, zum Theil in völliger Unkenntnis
darüber, daß sie schon früher dagewesene reproduzierte, zu den eigentlich
leitenden des gesammten Hypothekenrechts erhoben. Soll also den Bedürfnissen in
betreff des deutschrechtlichen Bestandtheiles unseres Rechtes genügt werden, so
muss als Surrogat geschriebener Quellen eine theoretische Basis für die
Beurtheilung aller solcher rein deutschen und gemischten Institute geschaffen
werden.
VIII.
Eine solche Theorie ist aber nicht mit ausschließlicher Rücksicht auf
ein einzelnes particulares Recht und nicht aus diesem allein zu entwickeln
möglich, sondern muß wegen des gemeinsamen Ursprunges und der gemeinsamen
Schicksale aller dahin gehörenden Rechtsinstitute in den einzelnen particularen
Rechten, eben so gut wie das Römische Recht für sie alle passen.
IX.
Wie gewinnt man nun diese Theorie? Man könnte glauben durch Aggregation
der einzelnen particularen Rechte, um aus denselben das ihnen allen gemeinsame
zu abstrahieren. Allein die bloße Aggregation gibt keine Rechtsregel und die
bloße Abstraction für sich noch keine allgemeine Wahrheit, und je weiter man
diese Richtung verfolgt, umso weiter wird auch die aufzustellende Theorie sich
von dem einzelnen particularen Rechte, für welches sie anwendbar sein soll,
entfernen.
X.
Indem aber die Wissenschaft an die durch die Rechtsgeschichte gewonnene
Basis anknüpft, gelangt sie zu einer solchen Theorie durch "Zerlegung und
Entwicklung der in jedem einzelnen gegebenen Rechtsinstitute enthaltenen
Grundgedanken". Sind diese gewonnen, so paßen sie wegen ihrer inneren Wahrheit
und Consequenz überall, wo jenes Institut sich findet. Die auf diesem Wege
gewonnene Theorie <S. Walter, Deutsches Privatrecht, S. 8>1 dient auch dem Richter
in Ermangelung positiver Bestimmungen zur Aushilfe, so z.B. bei der Beurtheilung
der gewagten Geschäfte. In die Gesamtheit dieser Theorie werden dann allerdings
auch solche Institute aufgenommen werden müßen, welche nicht überall vorkommen;
es gehört dieß zur Vollständigkeit des Systems und zum Nachweis des inneren
organischen Zusammenhanges der einzelnen Institute; auch muß jeder, der es mit
der Beurtheilung particularer Rechtsinstitute zu thun hat, mit Sicherheit in der
allgemeinen Theorie Auskunft finden können.
XI.
In besonderer Anwendung auf Österreich ist nun zu
bemerken
a. Es hat allerdings den Anschein, daß weil das Allg. bürgerliche
Gesetzbuch seine Principien als die allein normierenden hinstellt, es für die in
demselben enthaltenen Institute einer solchen Theorie gar nicht bedürfe. Allein
angenommen – jedoch nicht zugegeben – dem wäre so, so weist gerade dieser
Umstand auf die Unentbehrlichkeit einer solchen Theorie wenigstens für die nicht
in dem Gesetzbuche enthaltenen Institute. Indeßen auch in Betreff des
Gesetzbuches selbst ist jenes Bedürfniß nicht in Abrede zu stellen. Denn so sehr
auch der Gesetzgeber sich für unabhängig gehalten haben mag, so hat er sich doch
von der Vergangenheit nicht losmachen können, sondern hat auf römisch- und
deutschrechtlicher Grundlage in einem sehr großen Umfange fortgebaut. Aber die
Zeit der Abfassung des Gesetzbuches war jene, in welcher die falsche Ansicht
herrschte, daß dem Staate der Naturzustand vorangegangen sei und daß daher (nach
§ 17 des Gesetzbuches) alle diejenigen natürlichen Rechte fortbestünden, die
nicht durch das Gesetz beschränkt seien. Nichts konnte der Wissenschaft des
positiven Rechts nachtheiliger sein, als jener Irrthum, der von den wirklichen
Grundlagen des österreichischen Rechtes (römisches und deutsches Recht) hinweg
zu der Untersuchung nach den natürlichen Rechten und zur bloßen Casuistik
führte. Die Jurisprudenz in Österreich glaubte daher ihre Aufgabe darin zu
finden, auf dem Wege des Naturrechtes die Erkenntnis des positiven Rechtes zu
ermitteln. Dazu gab nun um so mehr Allgemein Bürgerliche Gesetzbuch § 7
Veranlassung, welcher den Richter anweist in zweifelhaften Fällen nach den
natürlichen Rechtsgrundsätzen zu entscheiden.
Indessen gerade dieser § 7
darf auch zu Gunsten der Theorie des gemeinen deutschen Privatrechts angeführt
werden. <Er lautet vollständig also: "Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den
Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf
ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe
anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt der
Rechtsfall noch zweifelhaft; so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig
gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen
Rechtsgrundsätzen entschieden werden.">2 Denn, wenn bei der Interpretation eines Gesetzes auf
die Gründe andrer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden soll, dann
muß es doch vor allem darauf ankommen, die leitenden Prinzipien der Gesetzgebung
überhaupt zu ermitteln. Diese müßte aber in seiner wahren Grundlage (in dem
früheren Rechte, des in seinem Institute und in seinem Geiste in die
Gesetzgebung hinübergegangen ist) nicht in dem vermeintlichen Naturrecht gesucht
werden. Sind sie aber gewonnen, so versteht man das zweifelhafte und das mit
demselben verwandte Gesetz. Es sind aber zugleich diese Prinzipien die der Natur
des Gesetzbuches wahrhaft entsprechenden und somit als die hier wahrhaft
natürlichen an die Stelle jener vermeintlich natürlichen zu setzen. Gerade sie
bieten dasjenige dar, was man die "Natur der Sache" zu nennen pflegt. So wie es
nun also nothwendig ist in Betreff aller mit dem Römischen Recht in Zusammenhang
stehenden im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch enthaltenen Institute auf das
Römische Recht zurückzuführen, so ist es auch erforderlich in Betreff aller
deutschrechtlichen jene auf die oben angegebene Weise zu entwickelnde Theorie zu
Hülfe zu nehmen.
b. Diese Theorie hat demnach auch für Österreich nicht bloß
den Werth, daß sie zu einer vergleichenden Jurisprudenz diente; sie lehrt den
österreichischen Juristen nicht etwa was in Hannover oder
Preußen gilt, sondern sie bietet das wahre
Mittel zum Verständnis des österreichischen Rechtes überhaupt.
c. Daß nun
das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in seiner Gesetzkraft auch auf solche
Theile der österreichischen Monarchie ausgedehnt worden ist, welchen nicht zu
dem deutschen Bunde gehören, kann nicht als ein Einwand gegen die Erlernung des
deutschen Privatrechts auf österreichischen Universitäten dienen. Denn so bald
einmal der Satz feststeht, das Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch kann nicht
nur mit Hilfe jener Theorie verstanden werden, dann versteht es sich von selbst,
daß Jeder, welcher das Gesetzbuch anzuwenden hat, auch diese Theorie kennen
müsse.
XII.
In seiner Vollständigkeit umfasst das gemeine deutsche Privatrecht
sowohl das Wechsel-, Handels- und Seerecht, als auch das Lehnrecht. Das
Lehnsinstitut beruht auf den nämlichen Grundprinzipien, aus welchen mehrere
andere Rechtsverhältnisse hervorgegangen sind. Es ist daher nicht unzweckmäßig
dasselbe wirklich in die Vorträge über deutsches Privatrecht und zwar in seiner
Verbindung mit dem langobardischen Lehnrechte hineinzuziehen. Unumgänglich
nothwendig erscheint dies nicht und es können jene Disciplinen selbständig
vorgetragen werden, doch wird der Lehrer des deutschen Privatrechts einer, um
seinen Schülern einen Überblick über das Ganze zu gewähren, die Punkte näher
bezeichnen müssen, wo jene Rechtsgebiete mit den übrigen des deutschen
Privatrechts sich kreutzen.