Der Erzbischof von Wien, Joseph Othmar Rauscher, bittet Leo Thun, die Wahl des Priesters Fellner zum Domherren in Linz nicht dem Kaiser zur Bewilligung vorzulegen. Die Wahl sei weder für den Bischof von Linz noch für Rauscher selbst zufriedenstellend ausgefallen. Rauscher sieht darin die Machenschaften demokratischer Kräfte innerhalb der Geistlichkeit, die auch an der Universität Wien spürbar seien. Anschließend berichtet Rauscher von seiner Reise nach Neapel und der Rückreise nach Rom.
Rom, am 16. Mai 1855
Hochgeborner Graf!
So eben erhalte ich von meinem Herrn
Weihbischofe Nachricht über das Ergebnis der Wahl, welche für das
zu Linz erledigte Canonicat statt hatt. Der
Bischof kömmt in um so
größere Verlegenheit, da der neue Domherr zugleich die Leitung des Seminariums
übernehmen soll: was doch gewiß ein Vertrauensamt ist. Wenn ich Etwas für ihn
thun kann, so halte ich mich dazu verpflichtet, aber mittelbar betrifft die
Sache auch mich selbst. An der Wiener
Universität ist die Partei vom Jahre 1848 noch aufrecht und macht
mit der demokratischen Fraction der Geistlichkeit gemeine Sache. Die erwähnte
Wahl ist das Werk dieser Leute. Hierin muß abgeholfen werden, sonst könnten sich
die schlimmsten Störungen begeben. Die Frage reicht viel weiter als die
Domherrenwahlen. In dieser letzteren Beziehung kann aber leicht ein
Auskunftsmittel gefunden werden. Seine Majestät hat Sich der Patronatsrechte
über diese Canonicate nicht begeben und in der Präsentationsurkunde wird der
Universität mit keinem Wort gedacht.
Ich habe durchaus keine Zeit auf die
Sache näher einzugehen. Da ich zu Neapel
kein Dampfboot zur rechten Zeit fand, entschloß ich mich zum Landwege. Zu
Rom, wo ich blos die Pferde wechseln
wollte, erfuhr ich, daß Seine Kaiserliche Hoheit Erzherzog Ferdinand hier
eintreffen werde und glaubte ihn erwarten zu sollen. Heute wird er ankommen;
überdieß habe ich sogleich wieder zu thun gefunden. Ich beschränke mich also nur
darauf, Euer Excellenz dringend zu bitten, die Wahl des Pfarrers Fellner Seiner Majestät nicht vorzulegen, bevor ich
zurückgekommen bin und mich im Zusammenhange darüber ausgesprochen habe. Auch
über die Ausführung der allerhöchsten Entschließung vom 10. dieses Monats,
welche ich zu Neapel erhielt, wünsche ich
aus sehr wichtigen Gründen mich äußern zu können.
Übrigens verharre ich mit
der vollkommensten Verehrung,
Euer Excellenz gehorsamster Diener
J. v. Rauscher