Leo Thun erkundigt sich beim Gesandten Bernhard Rechberg über Emil Rössler. Rössler war einst einer der ersten Vertreter der Rechtsgeschichte in Österreich. Allerdings hatte er 1848 in der Paulskirche für die Wahl des preußischen Königs zum deutschen Kaiser gestimmt und ist danach nicht mehr nach Österreich zurückgekehrt. Derzeit ist er Privatdozent in Göttingen, wünscht sich jedoch eine Anstellung in Österreich. Thun möchte daher eine genaue Auskunft über Rösslers Gesinnung haben. Rechberg soll sich hierzu bei Justin Linde erkundigen, der sicherlich, wie schon in der Vergangenheit auch, verlässliche Aussagen über Rösslers Charakter machen könne.
Eine Abschrift des Briefes liegt im Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Linde, N 1759, 51.
Wien 26. Dezember 1855
Hochgeborner Graf!
Seit einigen Jahren lehrt an der Göttinger
Universität als Privatdozent der Österreicher Dr. Rößler. Er hat sich schon vor dem Jahre
1848 in Österreich mit rechtshistorischen
Forschungen abgegeben, war in jenem Jahre Deputierter bei dem Frankfurter
Parlament und als solcher einer der 4 Österreicher, welche für die Wahl des
Königs von Preußen zum deutschen Kaiser stimmten. Seine Freunde behaupten, er
sei hiezu durch zufällige Umstände verleitet worden, ohne die politische
Bedeutung zu begreifen, indem er sich überhaupt um Politik nicht bekümmert habe.
Von anderen Seiten wird hingegen behauptet, er sei mit Bewußtsein in der
Gotha'schen Partei gestanden und dürfte dem Einfluße der wissenschaftlichen
Männer dieser Partei auch noch nicht entrückt sein. Er liest in Göttingen
Rechtsgeschichte und deutsches Recht, soll sich einen guten Namen gegründet
haben und ist mir kürzlich auf indirektem Wege sogar durch Savigny empfohlen worden. Nachdem er
gleichwohl im Auslande eine Anstellung bisher nicht erlangt hat, so wünscht er
begreiflicher Weise angelegentlich wieder in Österreich angestellt zu werden und sein Wunsch wird von
zahlreichen Freunden in Österreich
getheilt, die in ihm einen der ersten vaterländischen Vertreter
rechtshistorischer Studien erblicken. Ich sehe mich durch diese Umstände
gezwungen, die Frage in Erwägung zu ziehen, ob seine Anstellung in Österreich zulässig sei. Sie hängt zunächst von
den beiden Vorfragen ab, welches Gewicht noch gegenwärtig seiner erwähnten
Theilnahme an der Abstimmung über die Kaiserfrage beizumessen sei, und in wie
weit etwa zu besorgen stehe, daß er noch gegenwärtig den wissenschaftlichen
Richtungen der Gotha'er Partei angehöre und in diesem Sinne in Österreich wirken würde, wozu das Lehrfach der
deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte allerdings mehr als jedes andere
Gelegenheit bietet. Eurer Exzellenz wird es nicht an Gelegenheit fehlen, über
diese Fragen im vertraulichen Wege in so weit verläßliche Auskunft einzuholen,
als solches überhaupt möglich ist: Männer der Wissenschaft, welche in Deutschland leben, die wissenschaftlichen
Bewegungen mit sorgfältigem Auge beobachten, selbst aber mit aufrichtiger
Überzeugung auf dem richtigen Standpunkte stehen, sind allein befähigt, über
solche Fragen Aufschluß zu geben. Einen solchen Mann haben Eure Exzellenz in der
Person des Staatsrathes Linde an Ihrer
Seite, welcher mir bereits manchen wichtigen Dienst ähnlicher Art geleistet hat
und Euer Exzellenz werden ohne Zweifel noch mit manchem ebenso verlässlichen und
wohlunterrichteten Manne in Berührung stehen. Deßhalb habe ich die Ehre, Eure
Exzellenz zu ersuchen, mir nach eindringlicher Erkundigung Ihre wohlerwogene
Ansicht über die berührte Angelegenheit eröffnen zu wollen, indem ich bis dahin
mit jeder anderweitigen Einleitung zurückhalte.
Gleichzeitig erlaube ich mir
Euer Exzellenz zu ersuchen, das beiliegende Schreiben1, in welchem ich die Gefälligkeit des Staatsrathes Linde noch in einer anderen
Angelegenheit in Anspruch nehme, demselben zukommen zu lassen zu
wollen.
Genehmigen Euer Exzellenz den Ausdruck der ausgezeichnetsten
Hochachtung, mit welcher ich die Ehre habe zu sein
Eurer Exzellenz
ergebenster Diener
Leo Thun