Der Priester Karl Vinařický setzt sich bei Leo Thun für den wegen angeblicher Pflichtverletzung entlassenen Schulrat Josef Wenzig ein. Er bittet Leo Thun, die Gründe für die Entlassung näher zu untersuchen, Wenzig die Gelegenheit zu geben, sich zu rechtfertigen und die Entlassung gegebenfalls rückgängig zu machen. Vinařický betont dann das Engegament und die Loyalität Wenzigs. Jener habe bei Übernahme der Leitung der ersten tschechischen Realschule in Prag sowie als Inspektor der Volksschulen in Böhmen alles daran gesetzt, um die Reformen im Schulwesen durchzusetzen sowie die Nationalsprachen und die deutsche Sprache miteinander in Einklang zu bringen. Auf diesem Weg habe er sowohl den Bedürfnissen des böhmischen Volkes und als auch den Forderungen des Gesamtstaates Rechnung getragen. Vinařický nennt außerdem die von Wenzig herausgegebenen Broschüren, welche die Idee der Vereinigung aller Völkerstämme unter der herrschenden Dynastie propagierten. Aus Vinařickýs Sicht sei Wenzig daher eher als großösterreichischer Patriot denn als Separatist zu betrachten.
Euere Excellenz!
Aus Anlaß beachtungswerther Mittheilungen, welche mir Capitular Stulc über sein letztes Erscheinen vor Euerer
Excellenz und über seine Unterredungen mit dem gräflichen Herrn Bruder dem k.k.
Ministerialrathe Grafen Franz
Thun gemacht, schickte ich mich eben an, eine Dankschrift an
Euere Excellenz zu addressiren, worin ich die nachtheiligen Folgen einer
systematisch betriebenen Paralysirung aller neuen der Pflege unserer
Volkssprache günstigen hohen Ministerialverordnungen darzustellen beabsichtigte:
als mein alter Freund, Schulrath Wenzig,
mich besuchte und mir ein Schreiben Euerer Excellenz vorwies, worin ihm
aufgetragen wird, „seiner Stellung freiwillig zu entsagen, Seine k.k. Majestät um Verzeihung seiner
Pflichtverletzung zu bitten und sich unbedingt dem zu unterwerfen, was über ihn
werde verfügt werden“. Er frug mich sodann um freundlichen Rath, was ihm in
dieser Lage zu thun obläge. Ich rieth dem gekränkten Manne um eine discrete und
impartiale Untersuchung der Sache bei einem hohen k.k.
Ministerium anzusuchen. Indessen bitte ich ehrerbietigst Euere
Excellenz wollen es meiner Pietät für den gebeugten Freund zu Gute halten, wenn
ich es wage, diese Zeilen als ein Fürwort für die gute Sache einzulegen.
Das
ganze Land kennt den genannten Schulrath als einen Mann, welcher seit einer
Reihe von Jahren mit der loyalsten Gesinnung die nationalsprachlichen Gegensätze
in der Literatur und in der Schule zu vermitteln anstrebte. Als einen solchen
erkannte ihn auch die hohe k.k. Regierung, als sie ihm die Leitung einer erst zu
schaffenden und so zu sagen improvisirten Lehranstalt – der böhmischen
Oberrealschule – übertrug, welche Errichtung ganz geeignet war, mittelst einer
naturgemäßen Unterrichtssprache und suczessiven Anlehrung der deutschen Commerz-
und Staatssprache die realen Bedürfnisse des böhmischen Volkes und dem
Einheitspostulate der österreichischen Staatssprache in Einklang zu bringen. Die
genannte Lehranstalt gedieh unter seiner Leitung wie keine zweite im Lande. Sein
Beispiel spornte den ihm untergegebenen Lehrkörper zu einer ungeahnten
Thätigkeit an. Zeuge der literarischen und artistischen Leistungen des Lehrkörpers
innerhalb eines Dezenniums in dem Jahresbericht der k.k. böhmischen
Oberrealschule zu Prag für das Jahr 1859. Darin sind 17
deutsche, 31 böhmische Hefte, theils Originalien, theils Übersetzungen, 16 Hefte
technischer und artistischer Artikeln und eine Menge von literarischen und
realistischen Abhandlungen in Zeitschriften zerstreut, verzeichnet. Diese
Leistungen binnen einer so kurzen Zeit möchten einer Akademie Ehre machen.
Soviel bekannt, sind schon 10 Zöglinge dieser Anstalt als Haupt- und
Realschullehrer angestellt, ebenso viele als Beamte, Ingenieure usw.
Als
erster (provisorischer) Landesschulrath und Inspector der Volksschulen im
Königreiche Böhmen hat Wenzig bei seinen Bereisungen den ersten
mächtigen Impuls zur fast allgemeinen Aufnahme des neuorganisirten Schulwesens
gegeben. Er hat, so zu sagen, das Eis der Schulerstarrung bei uns
gebrochen.
Bei der von einem hohen k.k. Ministerium für
Cultus und Unterricht mir aufgetragenen Verfassung böhmischer
Schulbücher ward ich an ihn als den Vertrauensmann der kaiserlichen Regierung
gewiesen. Von ihm wurden mir bei der Wahl und Vorzeichnung historischer Stoffe
die leitenden Ideen des engeren und großen österreichischen Vaterlandes, dann
die Idee der offenbar durch einen Akt der Vorsehung herbeigeführten Vereinigung
der vielen, sonst oft einander feindlich entgegen stehenden Völkerstämme unter
einer Dynastie als Leitfaden angegeben; welche Ideen an geeigneten Stellen auch
Ausdruck erhielten. Diesen Grundsätzen ist Schulrath Wenzig nie untreu geworden, auch nicht in
seinen letzten Broschüren. Diese erschienen im Inlande und wurden bei der
präventiven Censurbehörde nicht beanstandet. Eine Pflichtverletzung kann ihm
darob nicht im Mindesten zugemuthet werden. Der darin enthaltene Nachweis, daß
den hohen Ministerialvorschriften und dem öfter ausgesprochenen Willen Seiner Majestät in Betreff der Wahrung und
Pflege der Nationalsprachen nicht überall die gehörige Rechnung getragen werde,
ist daselbst mit der äußersten Delikatesse geboten. Die Würdigung der
Nationalcharaktere ist unläugbar zu dem Zwecke hervorgehoben, um die
wechselseitige allmähliche Befreundung der österreichischen Völkerstämme zu
vermitteln. Ein großösterreichischer Patriotismus kann für wahr nur auf dieser
Basis sich entwickeln. Demnach war es gewiß ein guter Gedanke des Schulraths
Wenzig, als er in seiner Schrift
über die Erziehung mit nationalem Charakter das Studium der Charaktere der
österreichischen Völkerstämme anempfahl und zwar – um Überschätzung zu verhüten
– mit Licht und Schatten. Verkannten und verdrehten die nun wieder tonangebenden
Alldeutschthümler seine allseits versöhnende Tendenz, wurden sie Wühler, und
nicht der Schulrath Wenzig. Er ist zu
sehr ein großösterreichischer Patriot, als daß ihm einfiele, einen Separatismus
zu lehren.
Was aber immer in der letzten Zeit an sogenannten Demonstrationen
in Prag vorgefallen sein mag, darf ohne ein schreiendes
Unrecht zu begehen, weder ihm noch dem Lehrkörper seiner Anstalt zugeschrieben
werden. Alles war durch Plusmacherei und Taktlosigkeit notorisch bekannter Leute
provocirt.
In dem Drange der Zeit kann ich Euerer Excellenz nur noch
betheuern, daß man an Schulrath Wenzig
ein Unrecht begehen würde, wenn man ihm ein freiwilliges Aufgeben seines mit
Ruhm und allgemein anerkannten Verdienste geführten Amtes aufdrängen wollte.
Sollte er ohne weiters verabschiedet werden, dann müßte man über die
Gerechtigkeitspflege in Neu-Österreich verzweifeln. Einem von zwei Instanzen
schuldig Erklärten – Deutschthümler und Böhmenhasser – zu Lieb hat man neulich
ein neues Gesetz gemacht und den unter die früheren Gesetzvorschriften gehörigen
Vorfall unter das spätere Gesetz subsumirt, um ihn in der dritten Instanz
lossprechen zu können. Die Welt staunte über das Sophisma der Motivirung des
höchsten Gerichtshofausspruchs. Nun will man einem Schuldlosen eine
Selbstanklage aufdringen. Euere Excellenz können dieses Unrecht ohnmöglich
zugeben. Man möge dem Beschuldigten den Proceß machen, wenn die Stellen positive
Inzichten haben: jenes Postulat wäre aber – ich wage es offen zu sagen – ein
moralischer Justizmord. „Es gibt keine Moralität mehr in unserer einst
gepriesenen Justiz“, hörte ich nach dem Kuhnschen Proceßschluße aus dem Munde
eines höheren k.k. Staatsbeamten. So spricht auch die allgemeine Meinung. Im
höchsten Staatsinteresse darf Schulrath Wenzig nicht geopfert werden. Euere Excellenz können ihn zur
Verantwortung ziehen: er wird sich gewiß vollkommen rechtfertigen. Ich beschwöre
Euere Excellenz dem schuldlos Verkannten hiezu Mittel und Wege zu bieten. Ich
bitte flehentlich darum – um der Wahrung des Nachruhms Euerer Excellenz willen –
in ungeheuchelter Ergebenheit
gehorsamster Diener
Karl Winařický
Capitular
Wyšehrad, am 8. Juli 1860