Der Rabbiner Albert Kohn äußert sich besorgt über die drohende Spaltung vieler israelitischer Kultusgemeinden durch die unterschiedlichen Richtungen innerhalb des Judentums. Kohn schlägt daher zur Abwehr der Spaltung zwischen liberaleren und orthodoxen Juden zwei Maßnahmen vor: Einerseits einen Unterricht im Glauben, der einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen hält und andererseits eine allgemeinen Synode von Anhängern des mosaischen Bekenntnisses. Diese Synode sollte von Laien und Rabbinern aller Richtungen des Judentums beschickt werden und unter der Aufsicht der kaiserlichen Regierung in Wien tagen. Kohn erteilt auch einen Vorschlag für die mögliche Zusammensetzung der Versammlung. Die Delegierten sollen bei ihrem Zusammentreffen eine für die ganze Monarchie gültige Regelung der Organisation und der Verwaltung der jüdischen Gemeinden ausarbeiten.
Euere Excellenz!
Abermals wage ich es im Namen meines bedrohten Glaubens an Euere Excellenz mich
zu wenden, und wenn auch diesmal unaufgefordert, hoffe ich doch, daß die heilige
Sache, die mich beseelt, in den Augen Euerer Excellenz gegen den Vorwurf der
Zudringlichkeit mich schützen werde.
Der hohe Ministerialerlaß vermöge
welchem die Gemeinden gehalten sind, bis zur definitiven Reglung der jüdischen
Cultusangelegenheiten den Status quo provisorisch zu erhalten, hat dank der
weisen Vorsehung Eurer Excellenz die heilsamsten Früchte getragen, denn er hat
dem gänzlichen Verfall einen mächtigen Damm entgegengestellt. Und da ich in den
Anträgen, welche ich Eurer Excellenz zu unterbreiten die Ehre hatte, dieselbe
Ansicht ausgesprochen, so darf ich mit der Hoffnung mir schmeicheln, daß sie
nicht ohne Würdigung geblieben.
Aber der Damm, den die hohe
Ministerialverfügung der Auflösung der Gemeinden entgegensetzte, vermochte es
doch nicht, dem raschen Umsichgreifen einer anderen, noch drohenderen Gefahr
Schranken zu setzen; es ist der Prinzipienkampf der Parteien, der lange schon
unter der Asche geglommen, nun entledigt aller Fesseln des Gewissenszwanges und
angefacht vom Hauche der Zeit in hellen Flammen auflodert.
Fast in jeder
Gemeinde stehen die Parteien schroff und feindlich einander gegenüber: auf der
einen Seite der starre Zelotismus, der von den vermoderten Satzungen und
abgelebten Mißbräuchen um kein Haar breit weichen will und von vernunft- und
zeitgemäßen Verbesserungen in Schule und Gotteshaus mit Entsetzen sich abwendet;
und von der andern Seite – gänzliches Verwerfen alles Bestehenden, wo es nichts
Heiliges, nichts Ehrwürdiges mehr gibt, und diesen beiden äußersten Gegensätzen
gegenüber steht die große Mehrheit, die gesammte Intelligenz, welche
unerschütterlich festhält an dem überkommenen Glauben, aber sich abwendet von
den entstellenden Zusätzen und veralteten Mißbräuchen, und daher nach einem
geregelten, Herz und Geist erhebenden Gottesdienst und nach zeitgemäßen
Institutionen im religiösen und sozialen Leben mit aller Wärme sich sehnt. Diese
Kluft erweitert sich zusehends und droht in eine vollständige Trennung der
divergirenden Parteien auszuarten. Eine solche Trennung hätte aber die
unmittelbare Folge, daß in jeder noch so kleinen Gemeinde zwei und mehre[re]
Culten entständen, die fortwährend einander anfeinden und bekämpfen würden – es
wäre so der Zwietrachtsfunke in die sonst friedlichsten Gemeinden geworfen, der
nur in einen verheerenden Brand sich verwandeln muß.
Nur einer Verständigung
und versöhnenden Vermittlung dürfte es gelingen, den Riß noch bei Zeiten zu
heilen und den Ausbruch eines Schisma durch die Verschmelzung der extremen
Parteien mit der des gemäßigten Fortschrittes auf dem Boden der Offenbarung zu
verhüten.
Zwei Wege sind es, welche allgemein als die geeigneten bezeichnet
werden zur sichern Erreichung dieses Zieles:
1) Eine umfassende, alle
Schichten und religiösen Färbungen durchdringende Belehrung, eine Belehrung,
welche durch Form und Inhalt geeignet ist, einen tiefen, überzeugenden und
nachhaltigen Eindruck auf die Gemüther zu machen; eine Belehrung endlich, welche
weder vom starr conservativen noch absolut destructiven Standpunkte ausgeht,
sondern in der Mitte dieser beiden Extreme sich bewegt, und daher nicht gegen
Glauben und Satzung, sondern nur gegen Vorurtheil und Aberglauben zu Felde
zieht. Eine solche Belehrung sollte zwar von der Kanzel ausgehen; aber bei der
abhängigen Stellung der Rabbiner von jedem Einzelnen in der Gemeinde könnte die
Kanzel diese Aufgabe nicht in so weitem Umfange lösen, selbst wenn sie
allenthalben auf das würdigste vertreten wäre. Aber unabhängig und weit hin
schallend ist das geschriebene Wort und ein öffentliches Organ der rechte
Vermittler, um das Dunkel zu erhellen und die feindlichen Parteien zu versöhnen.
Diesen Weg haben bereits mehre[re] Männer von anerkannter Gesinnungstüchtigkeit
mit dem besten Erfolge eingeschlagen, sie haben nämlich eine Zeitschrift für
jüdische Interessen unter dem Namen „Wiener Blätter“ gegründet, welches Organ
durch seine versöhnende Sprache und edle Haltung sowie durch den Geist der
Duldung und der Liebe, den es athmet, seit der kurzen Zeit seines Bestehens zur
Besänftigung der Gemüther und Vereinigung der Parteien sowie zur Förderung des
Fortschrittes unglaublich viel beigetragen. Es wird von den Orthodoxen und
Liberalen mit gleich großem Interesse gelesen, und schon mancher schädliche
Mißbrauch wurde durch dessen Anregung abgeschafft sowie manches Gute und
Heilsame ins Leben gerufen.
Aber dieser Weg, so heilsam er auch ist, führt
doch für das drängende Bedürfnis zu langsam zum Ziele, während ein unmittelbares
Eingreifen von Seiten der hohen Regierung all den Spaltungen und Zerklüftungen
mit Einemmale ein Ende machen würde. Es ist nämlich die Berufung
einer Synode, welche
2) als der sicherste und kürzeste Ausweg aus
allen Wirren von Tausenden bezeichnet und mit der heißesten Sehnsucht
herbeigewünscht wird. Aber nicht eine Rabbinersynode ist es,
welche als der Weg zum Heile gepriesen wird oder zu preisen wäre; eine solche
blos aus Rabbinern bestehende Versammlung würde das Mißtrauen aller Parteien
erwecken und die Kluft nur erweitern statt zu schließen. Der Grund dieses
Mißtrauens liegt in der abhängigen und prekären Stellung, in welcher die
Gemeinden ewig die Rabbiner erhalten möchten, und daher besorgen, diese könnten,
wenn sie über die Reglung der Kultusangelegenheiten allein zu berathen hätten,
vor allem darauf bedacht sein, von dem auf ihnen lastenden Drucke sich zu
befreien oder gar sich über sie eine Herrschaft zu gründen. Nicht minder
bedenklich erscheint es, für jedes Kronland eine Synode zu
berufen; denn die religiösen Bedürfnisse der Israeliten sind überall dieselben,
und eine Trennung in mehre[re] Synoden würde die Kräfte nur zersplittern und die
Spaltung vergrößern.
Aber eine Versammlung berufener Glaubensgenossen aus
Rabbinern und Laien, Orthodoxen und Liberalen in der Residenzstadt und Mittelpunkt der Monarchie unter der Aegide
der hohen Regierung dürfte alle Bedingungen in sich vereinen zur Erreichung des
angestrebten Zieles, weil eine solche Versammlung geeignet ist, allen Parteien
Achtung und Vertrauen einzuflößen, da in ihr alle Parteien sich vertreten
sehen.
Zwar erhebt sich auf diesem Wege ein nicht unbedeutendes Hindernis in
der Art nämlich, wie die würdigsten und berufensten Männer aller Parteien in
allen Kronländern aufzufinden seien; denn bei dem herrschenden Indifferentismus
einerseits und der durch Armut erzeugten Abhängigkeit anderseits, dürfte durch
die Wahl der Gemeinden schwerlich ein glückliches Resultat zu erzielen sein.
Aber der hohen Regierung stehen die Mittel und Wege zu Gebote, die durch Wissen,
Charakter und Gesinnungstüchtigkeit hervorragendsten Männer eines jeden
Kronlandes zu finden.
Da Euere Excellenz mich schon einmal zu würdigen
geruthen, so wage ich es auch über diesen Punkt meine Gedanken auszusprechen,
wie ich sie aus der Erfahrung und aus den allenthalben laut sich kundgebenden
Stimmen geschöpft:
1. Es wären zu der fraglichen Synode 6 Vertrauensmänner
aus jedem Kronlande, 3 Rabbiner und 3 Laien, und aus Wien
ebenfalls 6 zu berufen; unter diesen den ersten Oberjuristen aus
Prag, den Mährischen
Landesrabbiner, den Oberrabbiner von Pest, den Wiener Prediger, die Oberrabbiner von
Lemberg und Padua. Die übrigen
aus jedem Kronlande zu berufenden Rabbiner und Laien wären vielleicht durch die
Kreisregierungen zu ermitteln.
2. Die der Synode vorzulegenden
Berathungsgegenstände wären folgende: a. das Gemeindestatut, b. die Anstellung
und Besoldung der Rabbiner, c. der Wirkungskreis, resp. Amtsinstruktion der
Rabbiner, d. Gründung und Erhaltung der Religionsschulen, e. Gründung und
Erhaltung eines Rabbiner- und Lehrerseminars, f. Ausarbeitung eines
Religionsbuches, g. Reglung des Gottesdienstes, der Gemeindeinstitute.
3.
Die Synode sei nur eine berathende und hätte ihre Protokolle mit den Majoritäts-
und Minoritätsbeschlüssen dem hohen Ministerium zur
Prüfung und Genehmigung zu unterbreiten.
Mit der unterthänigsten Bitte,
Euere Excellenz wollen Vorstehendes nicht als die Ansicht eines Einzelnen,
sondern als den wahren und ungefälschten Ausdruck eines allgemeinen tief
gefühlten Bedürfnisses zu betrachten und zu würdigen geruhen, zeichnet
ehrfurchtsvoll
Eurer Excellenz
unterthänigster Diener
A. Kohn Rabbiner
Raudnitz, den 4. Okt. 1850