Albert Kohn an Leo Thun
Raudnitz, 04. Oktober 1850
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Regest

Der Rabbiner Albert Kohn äußert sich besorgt über die drohende Spaltung vieler israelitischer Kultusgemeinden durch die unterschiedlichen Richtungen innerhalb des Judentums. Kohn schlägt daher zur Abwehr der Spaltung zwischen liberaleren und orthodoxen Juden zwei Maßnahmen vor: Einerseits einen Unterricht im Glauben, der einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen hält und andererseits eine allgemeinen Synode von Anhängern des mosaischen Bekenntnisses. Diese Synode sollte von Laien und Rabbinern aller Richtungen des Judentums beschickt werden und unter der Aufsicht der kaiserlichen Regierung in Wien tagen. Kohn erteilt auch einen Vorschlag für die mögliche Zusammensetzung der Versammlung. Die Delegierten sollen bei ihrem Zusammentreffen eine für die ganze Monarchie gültige Regelung der Organisation und der Verwaltung der jüdischen Gemeinden ausarbeiten.

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Edierter Text

Euere Excellenz!

Abermals wage ich es im Namen meines bedrohten Glaubens an Euere Excellenz mich zu wenden, und wenn auch diesmal unaufgefordert, hoffe ich doch, daß die heilige Sache, die mich beseelt, in den Augen Euerer Excellenz gegen den Vorwurf der Zudringlichkeit mich schützen werde.
Der hohe Ministerialerlaß vermöge welchem die Gemeinden gehalten sind, bis zur definitiven Reglung der jüdischen Cultusangelegenheiten den Status quo provisorisch zu erhalten, hat dank der weisen Vorsehung Eurer Excellenz die heilsamsten Früchte getragen, denn er hat dem gänzlichen Verfall einen mächtigen Damm entgegengestellt. Und da ich in den Anträgen, welche ich Eurer Excellenz zu unterbreiten die Ehre hatte, dieselbe Ansicht ausgesprochen, so darf ich mit der Hoffnung mir schmeicheln, daß sie nicht ohne Würdigung geblieben.
Aber der Damm, den die hohe Ministerialverfügung der Auflösung der Gemeinden entgegensetzte, vermochte es doch nicht, dem raschen Umsichgreifen einer anderen, noch drohenderen Gefahr Schranken zu setzen; es ist der Prinzipienkampf der Parteien, der lange schon unter der Asche geglommen, nun entledigt aller Fesseln des Gewissenszwanges und angefacht vom Hauche der Zeit in hellen Flammen auflodert.
Fast in jeder Gemeinde stehen die Parteien schroff und feindlich einander gegenüber: auf der einen Seite der starre Zelotismus, der von den vermoderten Satzungen und abgelebten Mißbräuchen um kein Haar breit weichen will und von vernunft- und zeitgemäßen Verbesserungen in Schule und Gotteshaus mit Entsetzen sich abwendet; und von der andern Seite – gänzliches Verwerfen alles Bestehenden, wo es nichts Heiliges, nichts Ehrwürdiges mehr gibt, und diesen beiden äußersten Gegensätzen gegenüber steht die große Mehrheit, die gesammte Intelligenz, welche unerschütterlich festhält an dem überkommenen Glauben, aber sich abwendet von den entstellenden Zusätzen und veralteten Mißbräuchen, und daher nach einem geregelten, Herz und Geist erhebenden Gottesdienst und nach zeitgemäßen Institutionen im religiösen und sozialen Leben mit aller Wärme sich sehnt. Diese Kluft erweitert sich zusehends und droht in eine vollständige Trennung der divergirenden Parteien auszuarten. Eine solche Trennung hätte aber die unmittelbare Folge, daß in jeder noch so kleinen Gemeinde zwei und mehre[re] Culten entständen, die fortwährend einander anfeinden und bekämpfen würden – es wäre so der Zwietrachtsfunke in die sonst friedlichsten Gemeinden geworfen, der nur in einen verheerenden Brand sich verwandeln muß.
Nur einer Verständigung und versöhnenden Vermittlung dürfte es gelingen, den Riß noch bei Zeiten zu heilen und den Ausbruch eines Schisma durch die Verschmelzung der extremen Parteien mit der des gemäßigten Fortschrittes auf dem Boden der Offenbarung zu verhüten.
Zwei Wege sind es, welche allgemein als die geeigneten bezeichnet werden zur sichern Erreichung dieses Zieles:
1) Eine umfassende, alle Schichten und religiösen Färbungen durchdringende Belehrung, eine Belehrung, welche durch Form und Inhalt geeignet ist, einen tiefen, überzeugenden und nachhaltigen Eindruck auf die Gemüther zu machen; eine Belehrung endlich, welche weder vom starr conservativen noch absolut destructiven Standpunkte ausgeht, sondern in der Mitte dieser beiden Extreme sich bewegt, und daher nicht gegen Glauben und Satzung, sondern nur gegen Vorurtheil und Aberglauben zu Felde zieht. Eine solche Belehrung sollte zwar von der Kanzel ausgehen; aber bei der abhängigen Stellung der Rabbiner von jedem Einzelnen in der Gemeinde könnte die Kanzel diese Aufgabe nicht in so weitem Umfange lösen, selbst wenn sie allenthalben auf das würdigste vertreten wäre. Aber unabhängig und weit hin schallend ist das geschriebene Wort und ein öffentliches Organ der rechte Vermittler, um das Dunkel zu erhellen und die feindlichen Parteien zu versöhnen. Diesen Weg haben bereits mehre[re] Männer von anerkannter Gesinnungstüchtigkeit mit dem besten Erfolge eingeschlagen, sie haben nämlich eine Zeitschrift für jüdische Interessen unter dem Namen „Wiener Blätter“ gegründet, welches Organ durch seine versöhnende Sprache und edle Haltung sowie durch den Geist der Duldung und der Liebe, den es athmet, seit der kurzen Zeit seines Bestehens zur Besänftigung der Gemüther und Vereinigung der Parteien sowie zur Förderung des Fortschrittes unglaublich viel beigetragen. Es wird von den Orthodoxen und Liberalen mit gleich großem Interesse gelesen, und schon mancher schädliche Mißbrauch wurde durch dessen Anregung abgeschafft sowie manches Gute und Heilsame ins Leben gerufen.
Aber dieser Weg, so heilsam er auch ist, führt doch für das drängende Bedürfnis zu langsam zum Ziele, während ein unmittelbares Eingreifen von Seiten der hohen Regierung all den Spaltungen und Zerklüftungen mit Einemmale ein Ende machen würde. Es ist nämlich die Berufung einer Synode, welche
2) als der sicherste und kürzeste Ausweg aus allen Wirren von Tausenden bezeichnet und mit der heißesten Sehnsucht herbeigewünscht wird. Aber nicht eine Rabbinersynode ist es, welche als der Weg zum Heile gepriesen wird oder zu preisen wäre; eine solche blos aus Rabbinern bestehende Versammlung würde das Mißtrauen aller Parteien erwecken und die Kluft nur erweitern statt zu schließen. Der Grund dieses Mißtrauens liegt in der abhängigen und prekären Stellung, in welcher die Gemeinden ewig die Rabbiner erhalten möchten, und daher besorgen, diese könnten, wenn sie über die Reglung der Kultusangelegenheiten allein zu berathen hätten, vor allem darauf bedacht sein, von dem auf ihnen lastenden Drucke sich zu befreien oder gar sich über sie eine Herrschaft zu gründen. Nicht minder bedenklich erscheint es, für jedes Kronland eine Synode zu berufen; denn die religiösen Bedürfnisse der Israeliten sind überall dieselben, und eine Trennung in mehre[re] Synoden würde die Kräfte nur zersplittern und die Spaltung vergrößern.
Aber eine Versammlung berufener Glaubensgenossen aus Rabbinern und Laien, Orthodoxen und Liberalen in der Residenzstadt und Mittelpunkt der Monarchie unter der Aegide der hohen Regierung dürfte alle Bedingungen in sich vereinen zur Erreichung des angestrebten Zieles, weil eine solche Versammlung geeignet ist, allen Parteien Achtung und Vertrauen einzuflößen, da in ihr alle Parteien sich vertreten sehen.
Zwar erhebt sich auf diesem Wege ein nicht unbedeutendes Hindernis in der Art nämlich, wie die würdigsten und berufensten Männer aller Parteien in allen Kronländern aufzufinden seien; denn bei dem herrschenden Indifferentismus einerseits und der durch Armut erzeugten Abhängigkeit anderseits, dürfte durch die Wahl der Gemeinden schwerlich ein glückliches Resultat zu erzielen sein. Aber der hohen Regierung stehen die Mittel und Wege zu Gebote, die durch Wissen, Charakter und Gesinnungstüchtigkeit hervorragendsten Männer eines jeden Kronlandes zu finden.
Da Euere Excellenz mich schon einmal zu würdigen geruthen, so wage ich es auch über diesen Punkt meine Gedanken auszusprechen, wie ich sie aus der Erfahrung und aus den allenthalben laut sich kundgebenden Stimmen geschöpft:
1. Es wären zu der fraglichen Synode 6 Vertrauensmänner aus jedem Kronlande, 3 Rabbiner und 3 Laien, und aus Wien ebenfalls 6 zu berufen; unter diesen den ersten Oberjuristen aus Prag, den Mährischen Landesrabbiner, den Oberrabbiner von Pest, den Wiener Prediger, die Oberrabbiner von Lemberg und Padua. Die übrigen aus jedem Kronlande zu berufenden Rabbiner und Laien wären vielleicht durch die Kreisregierungen zu ermitteln.
2. Die der Synode vorzulegenden Berathungsgegenstände wären folgende: a. das Gemeindestatut, b. die Anstellung und Besoldung der Rabbiner, c. der Wirkungskreis, resp. Amtsinstruktion der Rabbiner, d. Gründung und Erhaltung der Religionsschulen, e. Gründung und Erhaltung eines Rabbiner- und Lehrerseminars, f. Ausarbeitung eines Religionsbuches, g. Reglung des Gottesdienstes, der Gemeindeinstitute.
3. Die Synode sei nur eine berathende und hätte ihre Protokolle mit den Majoritäts- und Minoritätsbeschlüssen dem hohen Ministerium zur Prüfung und Genehmigung zu unterbreiten.
Mit der unterthänigsten Bitte, Euere Excellenz wollen Vorstehendes nicht als die Ansicht eines Einzelnen, sondern als den wahren und ungefälschten Ausdruck eines allgemeinen tief gefühlten Bedürfnisses zu betrachten und zu würdigen geruhen, zeichnet ehrfurchtsvoll

Eurer Excellenz

unterthänigster Diener
A. Kohn Rabbiner

Raudnitz, den 4. Okt. 1850