Ein nicht genannter Schreiber äußert sich in diesem Schreiben besorgt über die vom Freiburger Theologen Johann Baptist Hirscher veröffentlichte Schrift „Die socialen Zustände der Gegenwart und die Kirche“. Der Schreiber ist davon überzeugt, dass dies nachteilige Folgen für die katholische Kirche haben werde, insbesondere weil sie den niederen Klerus gegen die Bischöfe aufstachele. Er ist daher auch überzeugt, dass der Heilige Stuhl in Kürze ein Anathema gegen Hirscher aussprechen werde. Sorgen bereitet dem Schreiber, dass Leo Thun sich mehrmals günstig über Hirscher geäußert hat. Der Schreiber kennt und schätzt den Minister und hält es deshalb für geboten, dass Thun seine Meinung revidiere. Andernfalls böte er seinen zahlreichen Gegnern eine leichte Angriffsfläche. Da der Schreiber Thun aber für den am besten geeigneten Mann auf dem Posten des Unterrichts- und Kultusminister hält, müsse man Thun von seinem Irrtum abbringen und einstweilen dafür sorgen, dass er sich vorerst nicht mehr zu Hirscher äußere.
<Mir von Fürst Felix Schw[arzenberg] damals übergeben> 1
Auszug aus einem Schreiben ddt. 18. August 1849
Professor Hirscher in
Freiburg hat eine Schrift („Die kirchlichen Zustände
der Gegenwart“) 2ausgehen lassen, welche, wenn nicht ein halbes Wunder den
natürlichen Lauf der Dinge hemmt, Bewegungen im katholischen
Deutschland hervorrufen wird, neben welchen das
Rongescandal 3als ein weit geringeres Übel verschwinden dürfte. Das Wichtigste und
Übelste daran ist, daß sie die Fahne der Rebellion des niedern Clerus gegen die
Bischöfe aufpflanzt. Was das deutsche Episcopat dagegen thun wird, weiß ich zur
Stunde noch nicht. Was ich aber aus gewissen, mir bekannten Prämissen heute
schon mit Bestimmtheit voraussagen kann, ist ein Anathem 4vom Heiligen Stuhle, welches in wenigen Monaten,
vielleicht noch früher, erfolgen wird:
Nun weiß ich ex certa scientia, daß
Graf Thun sich über Hirscher und seine neueste
Schilderhebung mit Enthusiasmus geäußert hat.
Ich kenne den Grafen persönlich und seine Äußerungen
machen mich nur besorgt, aber nicht irre in meiner, sonst sehr günstigen Meinung
über seinen Character und seine Denkweise. Er kennt aber gewisse factische
Verhältnisse nicht und hat sich mit jenen Fragen nie ex professo beschäftiget.
Zudem ist die Hirscher‘sche Schrift mit großer List und Kunst, gerade auf die
Berückung edler, aber der Sache unkundiger Gemüther berechnet. Auch habe ich die
eben mitgetheilte Notiz nicht aus dem Berichte solcher geschöpft, die dem neuen
Minister übel wollen, sondern
die ihn aufrichtig hochverehren und in anderen Beziehungen, namentlich in
Betreff seiner richtigen Würdigung des Einflusses der Kirche auf die
Wiederherstellung der Ordnung im Staate, nicht genug rühmen konnten. Ich bin bis
jetzt noch immer der Meinung, dass die Wahl des Grafen L[eo] T[hun] die beste war, die getroffen werden konnte.
Desto
nothwendiger ist es, ihn zu conserviren. Zu diesem Ende muß um jeden Preis
verhütet werden, daß er seine oben bezeichnete Ansicht von der Hirscher’schen
Sache fixirt. Ein offener und fester Character, wie
Graf T[hun] wäre unfähig, nicht nach seiner einmal festgestellten Auffassung zu
handeln und die weitere Folge davon könnte keine
andere sein, als 1) in allerkürzester Frist maaßloses Unheil und unheilbare
Verwirrung (namentlich in Böhmen!) und 2) als letztes Resultat
derselben, daß er selbst im Laufe eines halben Jahres „unmöglich“ wäre. Die
Aufgabe ist also: zu bewirken, daß er sein Urtheil einstweilen suspendire, guten
Rath höre, nach und nach seine Meinung berichtige, einstweilen aber sich aller
Äußerungen enthalte, die denen, welche jetzt die Revolution auf das Gebieth der
Kirche verpflanzen wollen, Hoffnungen erregen, die Katholiken aber mit Mißtrauen
erfüllen, überhaupt Vielen, die ihm nicht wohl wollen, Waffen
gegen ihn in die Hand geben könnten.