Franz Gatscher an Leo Thun
Wien, 8. September 1856
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Regest

Der Gerichtsmediziner Franz Gatscher unterbreitet Leo Thun – und zugleich Justizminister Karl Krauß – einige Vorschläge zur Verbesserung des Unterrichts für Gerichtsmediziner. Gatscher nennt als Grund für diesen Schritt die häufigen Klagen über die schlechte Ausbildung der Gerichtsmediziner, was dazu führe, dass Richter die Gutachten der Gerichtsmediziner vielfach nur schwer deuten könnten. Gatscher sieht mehrere Gründe für die derzeitige ungenügende Situation: Einerseits sei es die mangelhafte Ausbildung an den Universitäten, da das nötige Wissen für Gerichtsmediziner auf verschiedene Fächer verteilt sei und nicht systematisch gelehrt werde. Außerdem fehle die nötige Praxis in der Ausbildung der Gerichtsmediziner, was etwa mit der Einrichtung eines Seminars für Gerichtsmedizin behoben werden könnte. Im Fehlen einer staatlichen Prüfung sieht er einen weiteren Grund. Andererseits glaubt Gatscher, dass die vielfach übliche Vereinigung des Amtes des Gerichtsmediziners mit dem Amt des Medizinalbeamten zu einer Überfrachtung mit Aufgaben geführt habe. Er plädiert daher dafür, pro Bezirk einen eigenen Gerichtsmediziner zu nominieren. Zudem regt der Professor an, die Verdienstmöglichkeiten für Gerichtsmediziner zu verbessern. Zuletzt verweist Gatscher auf das Beispiel Preußens, wo die gerichtsmedizinische Praxis bereits 1817 reformiert worden sei. Damals wurden in Preußen Universitätsprofessoren als Kontrollinstanzen für die Gutachten der Gerichtsmediziner festgeschrieben. Diese Praxis habe sich sehr bewährt und wäre auch für Österreich ein Vorbild. Die Einbindung der Universitäten brächte auch für die Professoren den Vorteil, laufend neues Anschauungsmaterial zu erhalten.

Anmerkungen zum Dokument

Schlagworte

Edierter Text

Euere Excellenz!

Der gehorsamst Gefertigte wagt es, Anträge betreff der im gerichtärztlichen Unterrichte wünschenswerthen Verbesserungen ehrfurchtsvoll vorzulegen.
Die Justizbehörden einerseits, andererseits die Medizinalcollegien, welchen die Abgabe gerichtärztlicher Gutachten in 2. Instanz oder sogenannter Superarbitrien obliegt, führen häufig Klage über die Mittelmäßigkeit der Leistungen der Gerichtsärzte. In der bei weitem größten Anzahl der Fälle sei der Thatbestand höchst mangelhaft selbst in jenen Puncten erhoben, welche geradezu die Grundlagen für das Gutachten abgeben; die Gutachten für sich leiden an dem groben Gebrechen, daß sie unlogisch, unklar, in den einzelnen Behauptungen ohne zureichende Begründung und in einer Art abgefaßt sind, daß sie für den Richter schwer verständlich werden; das Letztangeführte ist ja auch der Grund, daß in der gegenwärtigen Strafprozeßordnung gewiße Fragen bezeichnet und präzise entworfen sind, welche den Gerichtsärzten zur Beantwortung vorgelegt werden sollen.
Forscht man den Ursachen dieser Unzukömmlichkeit nach, welche so vielfach gefühlt wird, so stellen sich ganz vorzüglich vier heraus:
1. Der mangelhafte Unterricht in den einzelnen Zweigen der Staatsarzneikunde, namentlich der gerichtlichen Medizin;
2. Der gänzliche Mangel einer Garantie für die Befähigung durch eine Staatsprüfung von jenen Ärzten, welche dem Staatsdienste sich zuwenden wollen;
3. Die unzweckmäßige Vereinigung der Geschäfte eines Gerichtsarztes und eines Medizinalbeamten im engeren Sinne (Polizeiarztes) in Einer Person bei Bestellung der Bezirks- und Kreisärzte, die Überbürdung somit derselben mit Geschäften und noch dazu von so ganz heterogener Art.
4. Die im Verhältnisse zu der Schwierigkeit und Ausdehnung der Berufsgeschäfte zu geringe Entlohnung der vom Staate bestellten Ärzte.
ad 1. Der Unterricht, wie er an unseren Hochschulen über gerichtliche Medizin vorschriftsmäßig ertheilt wird, besteht darin, daß über ein größeres Gebiet mit einfachen, theoretischen Eröffnungen hinweg gegangen werden muß, bei einem anderen Abschnitte hingedeutet wird, die Gründe für diese Lehrsätze fänden sich in dieser oder jener Wissenschaft. Practische Vorträge und Einübungen der Hörer bestehen nur in dem Abschnitte „Über die Erhebung der Todesart“. Hierzu dienen Leichen, welche in der That einer gerichtlichen Obduction unterzogen werden oder aber solche, welche blos zur Einübung der Schüler in der Form einer gerichtlichen Untersuchung behandelt werden. Practische Untersuchungen über Vergiftungen oder derlei Untersuchungen an Lebenden etc., so wie eine umfassende Anleitung der Schüler zur Abfassung von Gutachten über die mannigfaltigen Gegenstände sind noch nicht eingeführt.
Dieser Unterricht ist wohl sehr geeignet, einem Schüler der Medizin einen Überblick über die Zweige und die Ausdehnung des gerichtsärztlichen Gebietes zu gewähren, – und insoferne war und ist die Erklärung der gerichtlichen Medizin als Obligatstudium in dem bestehenden, engbegränzten Umfange für jeden Mediziner äußerst sinnreich – aber er ist nicht ausreichend für den practischen Gerichtsarzt.
Eben so ungründlich ist nach der Natur der Verhältnisse der Unterricht über Medizinalpolizei; er besteht in 5 wöchentlich, 5stündigen, theoretischen Vorträgen über ein Ideal der Medizinalpolizei; auf die vaterländisch positive Gesetzgebung wird keine, um so weniger auf jene des Auslandes Rücksicht genommen.
Diesen Bedürfnissen könnte nur durch ein gerichtsärztliches Seminar, analog dem physiologischen oder dem Operationsinstitute eingerichtet, abgeholfen werden. Zwei Professoren, beide für die gesammte Staatsarzneikunde, der eine für gerichtliche Medizin, der andere für Medizinalpolizei bestellt, würden außer jenen Vorträgen für alle Hörer des 5. Jahrganges der Medizin, ein Seminar practische Untersuchungen und Einübungen in allen Zweigen der gerichtlichen Medizin und Medizinalpolizei mit den Zöglingen vornehmen. Dahin dürften jene Ärzte zählen, welche zu practischen Ärzten approbirt, in den Staatsdienst zu tretten gedenken; im Institute würden sie etwa Ein Jahr zu ihrer Ausbildung verwenden und hierauf vor einer hierzu bestellten Comission, wozu am füglichsten die bestehende Landesmedicinalcomissionen verwendet werden können, eine practische Staatsprüfung ablegen.
Aus derartig approbirten Ärzten könnten aber mit vollkommener Beruhigung Gerichtsärzte und Medizinalbeamte gewählt werden.
Derartige Institute wären nicht in jedem Kronlande und jeder Universität einzuführen und es dürften Wien und Prag um so eher genügen, als die Candidaten aus anderen Kronländern mit Stipendien zu diesem Behufe versehen an jene Pflanzschulen angewiesen werden könnten.
ad 2. 3. Die Aufgabe eines Gerichtsarztes und eines Medizinalbeamten bei politischen Behörden ist sehr verschieden und jede sehr umfassend; es ist daher nicht vollkommen zweckentsprechend, eine größere Anzahl von Einer Gattung von Ärzten z.B. Bezirks- oder Kreisärzte zu bestellen, und denselben diese beideartigen Obliegenheiten zuzuwenden; es dürfte ersprießlicher sein, für einen doppelt größeren Bezirk den einen Arzt als Gerichtsarzt, den anderen als Medizinalbeamten zu bestellen.
ad 4. Damit aber von den Ärzten gerade die fähigsten dem Staatsdienste sich zuwenden und demselben mit ganzer Seele sich weihen, wäre es sehr gerathen, mit der Größe der Leistungen die Höhe der Besoldung in ein nur einiger Maßen entsprechendes Verhältnis zu bringen; sonst dürfte die Besorgnis nicht übertrieben sein, daß die Ärzte sich lieber der Privatpraxis zuwenden und ein fähiger und verläßlicher Medizinalbeamte mit der Zeit eine große Seltenheit werden wird. Dies dürfte um so eher eintretten, als die vom Staate bestellten, etwaigen Ärzte selten eine ausgiebige Privatpraxis haben, da sie in Berufsgeschäften häufig abwesend sind, die Kranken daher auf ihre Dienste nie mit Sicherheit zählen können, diese Ärzte von vielen Partheien absichtlich gemieden werden und sie selbst aus sehr nahe liegenden Gründen die so nahe Berührung mit manchen Partheien, in welche practische Ärzte zu tretten haben, meiden müssen.
Bis mit der Zeit derartig verläßliche und tiefgebildete Gerichtsärzte dem Staate zu Gebothe stehen, aber auch dann noch, wäre eine Maßregel, welche im Königreiche Preußen mit königlicher Ordre seit 1817 eingeführt ist, mit der Aussicht auf einen ausgezeichneten Erfolg, in unserem Vaterlande durchzuführen.
Jeder Gerichtsarzt habe die Verpflichtung, eine Abschrift eines jeden Befundes und Gutachtens, welches er der Justizbehörde überreicht, unter Einem an die ständige Medizinalcomission des Kronlandes oder noch besser an den Lehrer der gerichtlichen Medizin der Lehranstalt dieses Kronlandes unter der Aufschrift „in Medizinalangelegenheiten“ einzusenden.
Dieser Lehrer geht den Befund und das Gutachten genau durch, ob ersterer nach allen Seiten sicher gestellt, und ob letzteres logisch richtig und alle jene Fragepuncte beantwortet enthält, welche im weiteren Zuge des Prozeßes von Wichtigkeit werden können.
Sind Befund und Gutachten tadelfrei gearbeitet, welche Beurtheilung von dem Lehrer wohl am ehesten erwartet werden kann, so legt er die Einsendung nach Eintragung in sein Gestionsprotocoll ad acta. Findet er ein oder das andere zu verbessern, so richtet er die entsprechende Weisung an den betreffenden Gerichtsarzt, welcher derselben alsogleich, somit zu einer Zeit nachzukommen hat, wo das Object noch vorhanden und nicht wesentlich verändert ist.
Die Vortheile dieser Maßregel sind zahlreich:
1. Der einzelne Gerichtsarzt fühlt sich einerseits zu besser gehaltenen Leistungen angespornt, wenn seine Arbeiten einem exquisiten Fachmanne zur Beurtheilung vorliegen, er bekommt andererseits belehrende Weisungen, die er ein nächstes Mal schon benützen kann, und es ist ein ausgiebiges Mittel geboten, um bei Besetzung besserer Sanitätsposten die Vorschläge nach den Leistungen der Candidaten erstatten zu können.
2. Die Gerichtsbehörden werden dann nicht nöthig haben, die Zeit raubenden nachträglichen Anfragen an ihre Ärzte wegen Ergänzung des Befundes und Gutachtens zu richten, es wird andererseits dem Justizetat eine Auslage ob der für die Nachtragsgutachten zu bemessenden Gebühren erspart und was das Wesentlichste ist, es werden die Fälle selten werden, wo jahrelang geführte Untersuchungen, welche Zeit und Auslagen in Fülle verursachten, aufgelassen werden müssen, weil sich leider zu spät zeigt, daß der Thatbestand nicht sicher gestellt war, und die Ergänzung daraus nicht mehr möglich ist, weil mittlerweile das Object vollkommen sich veränderte oder gar nicht mehr vorhanden ist.
3. Allerdings erwächst dem Lehrer der gerichtlichen Medizin dadurch eine beträchtliche Arbeit. Der für sein Fach Begeisterte wird sich aber um so bereitwilliger derselben unterziehen, als ihm dadurch ein reiches Materiale zufließt, welches er nach mehrfachen Richtungen für den Unterricht und seine wissenschaftlichen Arbeiten zu benützen in die Lage kommt. Die statistische Zusammenstellung der Fälle nach ein oder mehreren Jahren könnten selbst dazu benützt werden, um im Wege der Belehrung oder Gesetzgebung schädliche Volkssitten und Gebräuche abzustellen und andererseits die Veranlassungen und Mittel zu entfernen, welche oft zu Verbrechen führen oder dazu benützt werden. Der Lehrer könnte von Zeit zu Zeit seinem Landespräsidio motivirt, betreffende Anträge hierüber vorlegen.
Ich füge schließlich die ehrfurchtsvolle Bemerkung bei, daß ich eine Abschrift dieser Anträge in die Hände Seiner Excellenz des Herrn Justizministers unter Einem niederlege.

Dr. Franz Gatscher
k.k. Professor der gerichtlichen Medizin und Mitglied der ständigen Medizinalcommission in Lemberg

Wien 8. September 1856