Der Gerichtsmediziner Franz Gatscher unterbreitet Leo Thun – und zugleich Justizminister Karl Krauß – einige Vorschläge zur Verbesserung des Unterrichts für Gerichtsmediziner. Gatscher nennt als Grund für diesen Schritt die häufigen Klagen über die schlechte Ausbildung der Gerichtsmediziner, was dazu führe, dass Richter die Gutachten der Gerichtsmediziner vielfach nur schwer deuten könnten. Gatscher sieht mehrere Gründe für die derzeitige ungenügende Situation: Einerseits sei es die mangelhafte Ausbildung an den Universitäten, da das nötige Wissen für Gerichtsmediziner auf verschiedene Fächer verteilt sei und nicht systematisch gelehrt werde. Außerdem fehle die nötige Praxis in der Ausbildung der Gerichtsmediziner, was etwa mit der Einrichtung eines Seminars für Gerichtsmedizin behoben werden könnte. Im Fehlen einer staatlichen Prüfung sieht er einen weiteren Grund. Andererseits glaubt Gatscher, dass die vielfach übliche Vereinigung des Amtes des Gerichtsmediziners mit dem Amt des Medizinalbeamten zu einer Überfrachtung mit Aufgaben geführt habe. Er plädiert daher dafür, pro Bezirk einen eigenen Gerichtsmediziner zu nominieren. Zudem regt der Professor an, die Verdienstmöglichkeiten für Gerichtsmediziner zu verbessern. Zuletzt verweist Gatscher auf das Beispiel Preußens, wo die gerichtsmedizinische Praxis bereits 1817 reformiert worden sei. Damals wurden in Preußen Universitätsprofessoren als Kontrollinstanzen für die Gutachten der Gerichtsmediziner festgeschrieben. Diese Praxis habe sich sehr bewährt und wäre auch für Österreich ein Vorbild. Die Einbindung der Universitäten brächte auch für die Professoren den Vorteil, laufend neues Anschauungsmaterial zu erhalten.
Euere Excellenz!
Der gehorsamst Gefertigte wagt es, Anträge betreff der im gerichtärztlichen
Unterrichte wünschenswerthen Verbesserungen ehrfurchtsvoll vorzulegen.
Die
Justizbehörden einerseits, andererseits die Medizinalcollegien, welchen die
Abgabe gerichtärztlicher Gutachten in 2. Instanz oder sogenannter Superarbitrien
obliegt, führen häufig Klage über die Mittelmäßigkeit der Leistungen der
Gerichtsärzte. In der bei weitem größten Anzahl der Fälle sei der Thatbestand
höchst mangelhaft selbst in jenen Puncten erhoben, welche geradezu die
Grundlagen für das Gutachten abgeben; die Gutachten für sich leiden an dem
groben Gebrechen, daß sie unlogisch, unklar, in den einzelnen Behauptungen ohne
zureichende Begründung und in einer Art abgefaßt sind, daß sie für den Richter
schwer verständlich werden; das Letztangeführte ist ja auch der Grund, daß in
der gegenwärtigen Strafprozeßordnung gewiße Fragen bezeichnet und präzise
entworfen sind, welche den Gerichtsärzten zur Beantwortung vorgelegt werden
sollen.
Forscht man den Ursachen dieser Unzukömmlichkeit nach, welche so
vielfach gefühlt wird, so stellen sich ganz vorzüglich vier heraus:
1. Der
mangelhafte Unterricht in den einzelnen Zweigen der Staatsarzneikunde,
namentlich der gerichtlichen Medizin;
2. Der gänzliche Mangel einer Garantie
für die Befähigung durch eine Staatsprüfung von jenen Ärzten, welche dem
Staatsdienste sich zuwenden wollen;
3. Die unzweckmäßige Vereinigung der
Geschäfte eines Gerichtsarztes und eines Medizinalbeamten im engeren Sinne
(Polizeiarztes) in Einer Person bei Bestellung der Bezirks- und Kreisärzte, die
Überbürdung somit derselben mit Geschäften und noch dazu von so ganz heterogener
Art.
4. Die im Verhältnisse zu der Schwierigkeit und Ausdehnung der
Berufsgeschäfte zu geringe Entlohnung der vom Staate bestellten Ärzte.
ad 1.
Der Unterricht, wie er an unseren Hochschulen über gerichtliche Medizin
vorschriftsmäßig ertheilt wird, besteht darin, daß über ein größeres Gebiet mit
einfachen, theoretischen Eröffnungen hinweg gegangen werden muß, bei einem
anderen Abschnitte hingedeutet wird, die Gründe für diese Lehrsätze fänden sich
in dieser oder jener Wissenschaft. Practische Vorträge und Einübungen der Hörer
bestehen nur in dem Abschnitte „Über die Erhebung der Todesart“. Hierzu dienen
Leichen, welche in der That einer gerichtlichen Obduction unterzogen werden oder
aber solche, welche blos zur Einübung der Schüler in der Form einer
gerichtlichen Untersuchung behandelt werden. Practische Untersuchungen über
Vergiftungen oder derlei Untersuchungen an Lebenden etc., so wie eine umfassende
Anleitung der Schüler zur Abfassung von Gutachten über die mannigfaltigen
Gegenstände sind noch nicht eingeführt.
Dieser Unterricht ist wohl sehr
geeignet, einem Schüler der Medizin einen Überblick über die Zweige und die
Ausdehnung des gerichtsärztlichen Gebietes zu gewähren, – und insoferne war und
ist die Erklärung der gerichtlichen Medizin als Obligatstudium in dem
bestehenden, engbegränzten Umfange für jeden Mediziner äußerst sinnreich – aber
er ist nicht ausreichend für den practischen Gerichtsarzt.
Eben so
ungründlich ist nach der Natur der Verhältnisse der Unterricht über
Medizinalpolizei; er besteht in 5 wöchentlich, 5stündigen, theoretischen
Vorträgen über ein Ideal der Medizinalpolizei; auf die vaterländisch positive
Gesetzgebung wird keine, um so weniger auf jene des Auslandes Rücksicht
genommen.
Diesen Bedürfnissen könnte nur durch ein gerichtsärztliches
Seminar, analog dem physiologischen oder dem Operationsinstitute eingerichtet,
abgeholfen werden. Zwei Professoren, beide für die gesammte Staatsarzneikunde,
der eine für gerichtliche Medizin, der andere für Medizinalpolizei bestellt,
würden außer jenen Vorträgen für alle Hörer des 5. Jahrganges der Medizin, ein
Seminar practische Untersuchungen und Einübungen in allen Zweigen der
gerichtlichen Medizin und Medizinalpolizei mit den Zöglingen vornehmen. Dahin
dürften jene Ärzte zählen, welche zu practischen Ärzten approbirt, in den
Staatsdienst zu tretten gedenken; im Institute würden sie etwa Ein Jahr zu ihrer
Ausbildung verwenden und hierauf vor einer hierzu bestellten Comission, wozu am
füglichsten die bestehende Landesmedicinalcomissionen verwendet werden können,
eine practische Staatsprüfung ablegen.
Aus derartig approbirten Ärzten
könnten aber mit vollkommener Beruhigung Gerichtsärzte und Medizinalbeamte
gewählt werden.
Derartige Institute wären nicht in jedem Kronlande und jeder
Universität einzuführen und es dürften Wien und
Prag um so eher genügen, als die Candidaten aus
anderen Kronländern mit Stipendien zu diesem Behufe versehen an jene
Pflanzschulen angewiesen werden könnten.
ad 2. 3. Die Aufgabe eines
Gerichtsarztes und eines Medizinalbeamten bei politischen Behörden ist sehr
verschieden und jede sehr umfassend; es ist daher nicht vollkommen
zweckentsprechend, eine größere Anzahl von Einer Gattung von Ärzten z.B.
Bezirks- oder Kreisärzte zu bestellen, und denselben diese beideartigen
Obliegenheiten zuzuwenden; es dürfte ersprießlicher sein, für einen doppelt
größeren Bezirk den einen Arzt als Gerichtsarzt, den anderen als
Medizinalbeamten zu bestellen.
ad 4. Damit aber von den Ärzten gerade die
fähigsten dem Staatsdienste sich zuwenden und demselben mit ganzer Seele sich
weihen, wäre es sehr gerathen, mit der Größe der Leistungen die Höhe der
Besoldung in ein nur einiger Maßen entsprechendes Verhältnis zu bringen; sonst
dürfte die Besorgnis nicht übertrieben sein, daß die Ärzte sich lieber der
Privatpraxis zuwenden und ein fähiger und verläßlicher Medizinalbeamte mit der
Zeit eine große Seltenheit werden wird. Dies dürfte um so eher eintretten, als
die vom Staate bestellten, etwaigen Ärzte selten eine ausgiebige Privatpraxis
haben, da sie in Berufsgeschäften häufig abwesend sind, die Kranken daher auf
ihre Dienste nie mit Sicherheit zählen können, diese Ärzte von vielen Partheien
absichtlich gemieden werden und sie selbst aus sehr nahe liegenden Gründen die
so nahe Berührung mit manchen Partheien, in welche practische Ärzte zu tretten
haben, meiden müssen.
Bis mit der Zeit derartig verläßliche und
tiefgebildete Gerichtsärzte dem Staate zu Gebothe stehen, aber auch dann noch,
wäre eine Maßregel, welche im Königreiche
Preußen mit königlicher Ordre seit 1817 eingeführt ist, mit der
Aussicht auf einen ausgezeichneten Erfolg, in unserem Vaterlande durchzuführen.
Jeder Gerichtsarzt habe die Verpflichtung, eine Abschrift eines jeden
Befundes und Gutachtens, welches er der Justizbehörde überreicht, unter Einem an
die ständige Medizinalcomission des Kronlandes oder noch besser an den Lehrer
der gerichtlichen Medizin der Lehranstalt dieses Kronlandes unter der Aufschrift
„in Medizinalangelegenheiten“ einzusenden.
Dieser Lehrer geht den Befund und
das Gutachten genau durch, ob ersterer nach allen Seiten sicher gestellt, und ob
letzteres logisch richtig und alle jene Fragepuncte beantwortet enthält, welche
im weiteren Zuge des Prozeßes von Wichtigkeit werden können.
Sind Befund und
Gutachten tadelfrei gearbeitet, welche Beurtheilung von dem Lehrer wohl am
ehesten erwartet werden kann, so legt er die Einsendung nach Eintragung in sein
Gestionsprotocoll ad acta. Findet er ein oder das andere zu verbessern, so
richtet er die entsprechende Weisung an den betreffenden Gerichtsarzt, welcher
derselben alsogleich, somit zu einer Zeit nachzukommen hat, wo das Object noch
vorhanden und nicht wesentlich verändert ist.
Die Vortheile dieser Maßregel
sind zahlreich:
1. Der einzelne Gerichtsarzt fühlt sich einerseits zu besser
gehaltenen Leistungen angespornt, wenn seine Arbeiten einem exquisiten Fachmanne
zur Beurtheilung vorliegen, er bekommt andererseits belehrende Weisungen, die er
ein nächstes Mal schon benützen kann, und es ist ein ausgiebiges Mittel geboten,
um bei Besetzung besserer Sanitätsposten die Vorschläge nach den Leistungen der
Candidaten erstatten zu können.
2. Die Gerichtsbehörden werden dann nicht
nöthig haben, die Zeit raubenden nachträglichen Anfragen an ihre Ärzte wegen
Ergänzung des Befundes und Gutachtens zu richten, es wird andererseits dem
Justizetat eine Auslage ob der für die Nachtragsgutachten zu bemessenden
Gebühren erspart und was das Wesentlichste ist, es werden die Fälle selten
werden, wo jahrelang geführte Untersuchungen, welche Zeit und Auslagen in Fülle
verursachten, aufgelassen werden müssen, weil sich leider zu spät zeigt, daß der
Thatbestand nicht sicher gestellt war, und die Ergänzung daraus nicht mehr
möglich ist, weil mittlerweile das Object vollkommen sich veränderte oder gar
nicht mehr vorhanden ist.
3. Allerdings erwächst dem Lehrer der
gerichtlichen Medizin dadurch eine beträchtliche Arbeit. Der für sein Fach
Begeisterte wird sich aber um so bereitwilliger derselben unterziehen, als ihm
dadurch ein reiches Materiale zufließt, welches er nach mehrfachen Richtungen
für den Unterricht und seine wissenschaftlichen Arbeiten zu benützen in die Lage
kommt. Die statistische Zusammenstellung der Fälle nach ein oder mehreren Jahren
könnten selbst dazu benützt werden, um im Wege der Belehrung oder Gesetzgebung
schädliche Volkssitten und Gebräuche abzustellen und andererseits die
Veranlassungen und Mittel zu entfernen, welche oft zu Verbrechen führen oder
dazu benützt werden. Der Lehrer könnte von Zeit zu Zeit seinem Landespräsidio
motivirt, betreffende Anträge hierüber vorlegen.
Ich füge schließlich die
ehrfurchtsvolle Bemerkung bei, daß ich eine Abschrift dieser Anträge in die
Hände Seiner Excellenz des Herrn
Justizministers unter Einem niederlege.
Dr. Franz Gatscher
k.k. Professor der gerichtlichen Medizin und Mitglied der
ständigen Medizinalcommission in Lemberg
Wien 8. September 1856