Kardinal Joseph Othmar Rauscher äußert sich gegenüber Leo Thun zur schwierigen Situation, in der sich die Habsburgermonarchie befindet. Dabei kritisiert er besonders auch die Rolle, die die Presse dabei spielt.
Hochgeborner Graf!
Ich habe die Ehre Eurer Excellenz die Erklärung, welche ich zu
Rom über die Reverse gab, in Abschrift zu
überschicken. Man erklärte sich mündlich für befriedigt und der Bischof von Siebenbürgen erhielt in diesem
Sinne einen Bescheid, der allerdings nur mündlich gegeben wurde. Wenn die
Regierung auf diesen Grundsätzen beharrt, so hat sie einen festen Stand; wenn
sie ihr Wort brechen würde, so wäre dies eine moralische Niederlage und Österreich ist mit dem Papste in so weit in dem
gleichen Fall, daß auch ihm für den Augenblicke nichts mehr bleibt als die
moralische Macht des Rechts und der Wahrheit. Gibt man auch diese verloren, so
ist jede Stütze gebrochen. Die Freimaurer- und Judenblätter sind nur deshalb so
mächtig, weil man so offen zur Schau bringt, daß man sich vor ihnen fürchtet.
Die Partei, welche es auf den Untergang Österreichs abgesehen hat und durch kein Zugeständnis versöhnt
werden kann, wird künstlich verstärkt. Übrigens sind ohne Zweifel französische
Emissäre zu Wien, sogar die Gerichte werden schon
planmäßig organisirt. Gestern und vorgestern sprach die ganze Stadt, von den
Büreau der Beamten bis zu den Schenken, von einem neuen Ministerium, Hübner an der Spitze; gestern abends
wurde mir versichert, heute werde die Sache in der Wiener Zeitung erscheinen.
Ich erklärte dies natürlich für eine von den Wühlern ausgestreute Lüge. Durch
ein energisches Wort kann immer noch viel gewonnen werden, im schlimmsten Falle
ist nichts dadurch verloren. Übrigens fragt es sich, ob gegenüber den von der
Revolution organisirten Addressen der Protestanten nicht auch die Bischöfe an
die Regierung sich wenden sollten?
Ich verharre übrigens mit vollkommenster
Verehrung
Euer Excellenz
ergebenster Diener
J. O. Kard. Rauscher
Wien, am 31. Jänner 1860