Der Bischof von Leitmeritz, Augustin Hille, übermittelt Leo Thun ein von
ihm verfasstes Schreiben über die Schattenseite der Eisenbahnen. Er
hofft, dass Thun sich seiner Sorgen annehmen und die Regierung auf die
Problematik hinweisen werde. Hille hofft außerdem, dass es Thun
gesundheitlich wieder besser gehe, und er bittet, dessen Gattin zu
grüßen.
In besagtem Aufsatz weist Hille darauf hin, dass die
Bahnbeamten durch den zunehmenden Bahnverkehr sowohl ihrer Familie als
auch ihrer Kirche entfremdet würden. Dazu komme es, weil die Eisenbahn
die Sonntagsruhe nicht einhalte. Er bittet Thun daher, sich
der Sache anzunehmen, damit weder das Seelenheil der Beamten noch das
Wohl der Kirchen gefährdet werde.
Eure Exzellenz,
hochgeborner Herr Graf!
Ich bin so frei, einen Aufsatz über die sehr nachtheilige Schattenseite des
gegenwärtigen Bestandes der Eisenbahnen Eurer Exzellenz zur hohen Prüfung und
Würdigung vorzulegen. Ich habe absichtlich nicht den offiziellen Weg betreten,
weil ich es aus höhern Staatsgründen wünschte, daß eine hohe Regierung proprio
motu diesen wichtigen Gegenstand in Angriff nähme. Ich habe auch das Ministerium
nicht speziell benannt, weil ich nicht weiß, ob Eure Exzellenz selbst es als
angemessen erachten, die Initiative zu ergreifen oder wünschen, daß der
Gegenstand dem Herrn
Handelsminister vorgelegt würde. Ich bitte mir Hochihre
erleuchtete Ansicht hochgeneigtest bekannt geben zu wollen. Ich habe eben heute
aus der Zeitung entnommen, daß Eure Exzellenz am 31. Oktober wieder nach
Wien zurückgekehrt sind. Gott gebe, daß sich Hochihre
Gesundheit befestigt haben möge, um mit neuer Kraft den hochwichtigen Geschäften
obliegen zu können. Darf ich bitten, der gnädigen Gräfinexzellenz meine aufrichtige
Hochverehrung ausdrücken zu wollen?
Indem ich mich dem hohen Wohlwollen
empfehle, bitte ich die aufrichtige Versicherung der hohen Verehrung und
Ergebenheit genehmigen zu wollen, mit welcher ich die Ehre habe mich zu
zeichnen
Eurer Exzellenz
gehorsamster Diener
Augustin Barth. Hille
Bischof
Leitmeritz, am 3. November 1853
Hohes k.k. Ministerium!
Der Gegenstand, welchen ich kraft meiner Berufspflicht einem hohen
Ministerium zur geneigten Würdigung vorzulegen mir die Freiheit nehme, ist
zwar seiner Natur nach ein materieller, berührt aber eine Seite, von welcher
aus derselbe wesentlich in den Bereich der Kirche gehört, deren lebendigen
Organe die gottbestellten Bischöfe sind. Es betrifft das Institut der
Eisenbahnen. Diese äußerst wichtige und merkwürdige Einrichtung der Neuzeit
ist an und für sich geeignet, den folgenreichsten Einfluß
auf alle Klassen von Menschen in allen Verhältnissen des menschlichen Lebens
wohlthuend zu üben, Segen und Wohlfahrt zu verbreiten und zu fördern, aber nur dann, wenn dieses geistreiche Produkt des
menschlichen Scharfsinnes in seinem schnellen Fluge das religiös-sittliche
Element nicht übereilt oder hinter
sich zurückläßt.
Der göttliche Hauch der Religion, der in der
Kirche Gottes weht und seine Bewegung auf der Bahn der Geister mit kräftiger
Eile äußert, muß alle Einrichtungen im bürgerlichen Leben durchdringen,
damit in ihren Wirkungen ein wahrhaft wohlthätiges Gedeihen sichtbar werde,
welches nur von Gott ausgeht; damit sie den Menschen nicht von Gott abziehen
und trennen und ihn so seiner höhern Bestimmung, die über die Erdenbahn
reicht, gleichsam entfremden. Das ist aber grade die umfangreiche
Schattenseite der Eisenbahnen nach ihrer gegenwärtig
bestehenden Einrichtung. Nicht Hunderte, sondern Tausende von
Menschen, die an Eisenbahnen als Beamte angestellt sind oder sonst eine
Bedienstung haben, sind das ganze Jahr hindurch außerstand gesetzt, ihre von
Gott und seiner Kirche gebotenen öffentlichen Religionspflichten zu üben,
für das Heil ihrer Seele zu sorgen, das Bewußtsein ihrer höhern Bestimmung
in sich zu nähren, zu stärken, lebendig zu erhalten, sind vielmehr der
größten Gefahr preisgegeben, nach und nach in religiöser Beziehung ganz zu
verkümmern, in geistige Schienen verwandelt zu werden. (An dieser Gefahr
nehmen dann natürlich durch die dargebotene Gelegenheit theilweise auch mehr
und weniger jene theil, die sich der Eisenbahn in ihren Berufsgeschäften
bedienen.) Woher entsteht diese große Gefahr?
Weil in der Einrichtung
der Eisenbahnzüge zwischen dem Sonntage und dem Wochentage durchaus jeder Unterschied behoben ist, weil der Sonntag,
vorzugsweise der geheiligte Tag des Herrn genannt, an welchem der Geist des
Menschen, des Christen, dem göttlichen Zuge auf der vom Herrn selbst
angelegten Bahn des Heils und seiner ewigen Bestimmung folgen soll, ganz
ignorirt wird.
Das ist ein öffentliches, gewaltig eingreifendes Beispiel
bezüglich der Sonntagsfeier, der Heiligung der dem Dienste des Herrn
vorzugsweise geheiligten und geweihten Tage; aber ein Beispiel im schlimmen,
nachtheiligen Sinne, indem die Entheiligung, die leichtsinnige
Vernachlässigung und wahre Geringschätzung der gottesdienstlichen Feier der
Sonn- und Festtage von Jahr zu Jahr größere und bedenkliche Fortschritte
macht und „das materielle Interesse“ sich als das „einzig Nothwendige“
geltend macht.
Möge man diese Sprache nicht als eine Bigotterie ansehn.
Es ist ein ernster Gegenstand, der tief in das Familien- und bürgerliche und
kirchliche Leben eingreift, der die höhern Interessen der Menschheit, die
Grundlage der Wohlfahrt der Staaten involvirt, daher bei dem großen,
unabweislichen Zusammenhange, der zwischen den geistig-religiösen und
materiellen Interessen besteht, alle Aufmerksamkeit der Staatsmänner
verdient.
Es hat daher einen überraschenden Eindruck gemacht, als man
aus dem vielgelesenen Blatte der deutschen Volkshalle Nr. 248 vom 28.
Oktober 1853 unter dem Artikel: L.C. Berlin 25. Oktober entnahm, daß selbst
der Herr Handelsminister die Eisenbahnkommissariate zu gutächtlichen
Äußerungen in solcher Richtung veranlaßt habe. In so wichtigen Fällen darf
nach meiner Ansicht selbst ein etwaiger materieller Nachtheil nicht zu hoch
angeschlagen werden, da ein solcher von dem unberechbaren Werthe höherer
Interessen weit überwogen wird. Es dürfte aber nach meiner freilich
incompetenten Meinung selbst in pekuniärer Beziehung kaum ein bemerkbarer
Nachtheil zu befürchten sein, wenn an einem Sonn- oder Festtage entweder
ganz oder doch zu einem großen Theil des Tages der Eisenbahnzug ruht, weil –
abgesehen von anderweitigen Ersparnissen – die Frequenz derjenigen, welche
sich der Eisenbahn zu bedienen die Absicht haben, entweder bei den nächst
vorhergehenden oder nächst nachfolgenden Zügen umso stärker sein
dürfte.
Ich richte nun im Herrn, dessen Name geheiligt werden soll, an
ein hohes Ministerium vertrauungsvoll die freundliche angelegentliche Bitte,
diesen Gegenstand, der selbst eine Vereinbarung mit benachbarten Regierungen
verdienen dürfte, in hochgeneigte Erwägung ziehen und Maßregeln einleiten
und treffen zu wollen, durch welche nebst den materiellen, industriellen
Interessen auch den höhern kirchlich religiösen Interessen gebührende
Rechnung getragen würde; wobei ich mir nur noch die Bemerkung erlaube, daß
solch eine religiöse Wohlthat auch den k.k. Postbeamten und Bediensteten mit
gleicher Sorgfalt zuzuwenden sein dürfte.
Augustin Barth. Hille
Bischof
Leitmeritz, am 3. November 1853