Memorandum über den Zweck des Gymnasiums
von Joseph Fick[?]1
o. D. [1855]
|

Regest

Der Historiker Joseph Fick legt ein Memorandum über den Zweck und die Aufgabe des Gymnasiums vor. Aus seiner Sicht könne die Schulbildung nach zwei verschiedenen Standpunkten erfolgen: nach dem humanistischen und dem realistischen. Den humanistischen sah er bisher im Gymnasium verwirklicht. In jüngster Zeit wurde der Zweck der Gymnasien aus seiner Sicht jedoch stark verwässert, weil in den Gymnasien allzu viele naturwissenschaftliche Fächer aufgenommen worden sind. Die bestmögliche Erziehung der Knaben könne aus seiner Sicht aber nur dann erfolgen, wenn man das Gymnasium nicht mit Fächern überfrachte, die bloß einer nützlichen Anwendung dienen. Daher schlägt er vor, alle Realien und alles, was dem unmittelbaren Leben dient, aus dem Lehrplan der Gymnasien auszuscheiden. Die Knaben in den Gymnasien sollen durch die Lektüre der alten Sprachen und die Kenntnis des Altertums einen inneren Prozess der Reifung vollziehen, der sie für das Studium an den Universitäten vorbereitet, wo sie ihre Bildung schließlich vervollkommnen können. Außerdem müssen die Lehrer die entsprechende Bildung haben, um diesem Zweck dienen zu können.

Anmerkungen zum Dokument

Schlagworte

Edierter Text

Bei Auffassung der literarischen Obliegenheiten und der Einrichtung eines Gymnasiums, kann die Wahl der zwischen einem zweifachen Standpunkt und dem gemäß einzuschlagendem Wege getroffen werden. Es kann eine Möglichkeit gefunden werden, indem man sich für einen von beiden Standpunkten im Prinzip mit Bewußtseyn und Entschiedenheit bestimmt hat, den Anforderungen der entgegengesetzten Seite, im untergeordneten Verhältnisse, mehr oder weniger einzuräumen, aber unausführbar scheint es, die beiden Standpunkte zu vereinigen, zu vermengen, oder eine Mitte zu suchen, die wie es bei prinzipiellen Fragen nothwendig ist, unmöglich eine richtige sein könnte. Diese beiden Standpunkte und entsprechenden Wege sind der humanistische und realistische. Ihre Gegensätzlichkeit ist ganz und vollständig. Der humanistische Standpunkt hat es aufgegeben, das Gymnasium als unmittelbare Vorbereitung zum Leben zu behandeln und als solche auch nur zu betrachten. Er nimmt von den verschiedenen zukünftigen Berufsweichen, so wie von der politischen Stellung der Zeit und des Landes, wo die Erziehung vorgeht, ein williges Absehen, und sein Augenmerk geht auf die Entwicklung der Fähigkeiten wie der Thätigkeit des jugendlichen Geistes im Allgemeinen, und jener formellen und Geschmacksbildung insbesondere, die mit der wichtigen Erkenntnis und dem Gebrauche des Wortes in allen Beziehungen gegeben ist.
Zu Erreichung beider Zwecke bedient er sich der Grammatik und Literatur der alten Sprachen, zunächst und im ausgedehntern Maße der lateinischen.
Diese also setzt er in den Mittelpunkt des Unterrichtes, sie sind ihm die rechte und eigentliche Aufgabe des ganzen Gymnasiums, und wenn der Lehrer ein nach diesem Gesichtspunkte rechter Virtuose wäre, so würde er alle anderen Schulgegenstände damit in Verhältnis zu bringen und aus dieser Mitte zu beherrschen suchen.
Die ganze Meinung ist nicht, das Leben und seine Thätigkeit zu lehren, sondern zu dessen Erlernung vorzubereiten, und zwar sogar fürs erste noch von ferne, denn auch die Natur bereitet ja den Knaben und angehenden Jüngling erst aufs Leben vor.
So ist diesem Standpunkte auch die heranzubildende jugendliche Seele fürs Erste Selbstzweck; er vertraut, daß wenn erst die eigenthümliche Bildung, Ausschmückung und Bereicherung eines Geistes gelingen, derselbe dann auch jeder Forderung, die das Leben an ihn stellen kann, gerecht sein werde.
Der realistische Standpunkt hat in Allem die entgegengesetzten Ansichten und Absichten. Das praktische Leben ist ihm dasjenige, was er schon unmittelbar im Gymnasium bezweckt; seine Forderung an dasselbe als Lehranstalt geht mithin dahin aus, den durchgehenden Knaben und Jüngling so weit es die Alterstufe verträgt mit allen jenen Kenntnissen und Fertigkeiten auszustatten, die ihm dereinst bei seiner Stellung im Leben nöthig oder nützlich sein können.
Nach diesem Momente bestimmt sich allein seine Würdigung der vorzutragenden Gegenstände, sowohl was Ausdehnung und Methode betrifft, als auch überhaupt schon bei der Frage von Aufnahme oder Ausschließung der Einen oder Anderen. Die eigentlich realistischen Kenntnisse nämlich diejenigen, deren Inhalt den Stock des künftig brauchbaren Wissenskapitals fürs Leben bildet, empfehlen sich hier zuerst.
Es wird darum Wert auf Geschichte gelegt, obwohl mehr auf neuere und neueste, auf Geographie, auf Naturwissenschaften, sowohl Naturgeschichte als Physik.
Neuere Sprachen erweisen sich zunächst als nützlich, sie finden darum ihre angewiesene Stelle.
Aber auch die klassischen Sprachen und Studien haben noch nicht aufgehört brauchbar und selbst in vielen Beziehungen nöthig zu sein, darum gewährt ihnen der gedachte Standpunkt in dem Rahmen des Gesamtunterrichtes auch ihren gemessenen Raum, der doch meistens ziemlich eng bemessen wird, und in welchem sie als ein zur Zeit noch unentbehrlicher traditioneller Ballast mehr geduldet als begünstigt werden.
Zweck bleibt dann auch hier und der praktische Vortheil des allerdings durch die alten Sprachen zu gewinnenden vollkommeneren Styls und Ausdruckes in der Muttersprache, oder eine Rücksicht auf das antike Staatsleben, oder Vermeidung einer in klassischen Gegenständen immer noch unangenehm auffallenden Unwissenheit, oder sonst eine nahe und unmittelbare Anwendbarkeit fürs Leben.
Wenn wir überhaupt gesagt haben, daß der humanistische Standpunkt zunächst den Menschen und seine Bildung im Auge habe, so scheint der realistische zuerst auf seine Brauchbarkeit und sein allerdings mit darin begründetes materielles Wohlsein gedacht zu haben.
Es ist hier also offenbar Divergenz in den Prinzipien und darum auch in den Richtungen, und es wird unmöglich sein, so zu sagen, mit einem Fuß in beiden Bahnen zu wandeln.
Die Wahl muß getroffen werden. Die Weisheit unserer Vorfahren hat sich für den humanistischen Standpunkt entschieden. Diesem hält man die geänderten Anforderungen der Zeit gegenüber. Aber so gewichtsvoll diese in die Waage fallen, wo die Natur und das Bedürfnis der Zeit wirklich eigenthümliche und von den bisher gemachten abweichende Wege uns vorschreiben, so dürfen jene Anforderungen doch nicht zur Phrase werden, mit welchen man jede aus der Erkenntnis der Dinge hergenommene Erwägung des einzuhaltenden Ganges ohne weiteres niederschlägt, oder es dürfen die Forderungen Mancher oder Vieler, die sich als die negotiorum gestores der Zeit benehmen, nicht mit den wirklichen Bedürfnissen und Erheischungen der Zeit verwechselt werden. Wie vieles auch die Zeit anders gestaltet habe, so möchten wohl die Bedingungen und Fähigkeiten der Knabennatur, so wie die intellektuellen und moralischen Bedürfnisse des ersten Jünglingsalters am wenigsten verändert sein.
Der gefährlichste Feind für die ersten ist aber geistige Zersplitterung für die zweiten vorzeitiger Wissensdünkel und frühreife Altklugheit.
Der humanistische Standpunkt begegnet beiden ohne Aufwand und Absichtlichkeit, bloß allein durch sein System.
Sein Ziel hat er sich mehr und bestimmt gesetzt, es fließt ihn nicht in mehr oder minder undeutlicher Weitläufigkeit auseinander, er ist sich dessen voll bewusst und er kann es erreichen.
Er weiß, daß er einen jugendlichen Verstand zu bilden hat, und er bedient sich zu diesem Zwecke vorab der Grammatik, nach dem einmüthigen Zeugnis aller Meister in der Jugendbildung, man darf sagen seit Jahrtausenden, unstreitig des geeignetsten Bildungsmittels für den erwachenden Verstand, und zwar der lateinischen und griechischen, nicht nur, weil diese Sprachen den Weg zu den weiteren Absichten des humanistischen Unterrichtes bahnen müssen, sondern auch weil sie in sich die grammatischesten sind, und keine neuere Sprache sie in dieser Beziehung ersetzen kann.
Er weiß, daß er ein frisches und mächtiges Gedächtnis zu üben und zu bereichern hat, und er findet wieder, außer dem sprachlichen Elemente den Reichthum der Thatsachen und den ganzen Inhalt der antiken Welt als den ausgiebigsten und zuträglichsten Stoff. Er weiß endlich, daß er eine kräftige und unausgesetzt bildende Fantasie zu beschäftigen und von Verirrungen zu bewahren hat, und wie könnte da leicht besser gedient werden, als mit der Fülle der Geschichten, und mit den wunderbaren Dichtungen des Alterthums, die so ganz wie es die Jugend begehrt, recht ferne von dem Kreise ihres Lebens, und in ganz fremden zauberhaften Landen und auch Zeiten liegen.
Diesen Standpunkte nun und seine Praxis aufrecht zu halten, scheint auch noch in unseren Tagen nicht nur wünschenswerth, sondern wohl die einzige zu gedeihlichen Resultaten der Gymnasialbildung führende Weg.
Es sei vergönnt, zur Unterstützung dieser Ansicht noch einiges beizubringen, um gangbaren Einwürfen entgegen zu kommen.
I. Fürs erste kann zur frühesten Verstandesentwicklung und gleichsam als Hebamme dieser in dem Knaben zur ersten Erscheinung kommenden Seelenkraft an die Stelle der lateinischen Grammatik gewiss nicht, wie so viele wollten die Mathematik gesetzt werden. Dieser Wissenschaft gebührt und zwar dem geometrischen Theile derselben gewiß aber so sehr wie dem arithmetischen eine wichtige Stelle, selbst von ihrem praktischen Nutzen abgesehen, unter den jugendbildenden Disziplinen und darum besonders im Gymnasium; aber ihr Geschäft ist das zweite und nicht das erste. Ihre abgezogenen Formeln, ihre Axiome und Postulate, ihre Zahl und Raumesabstraktionen ruhen in Verstandesgeheimnissen, deren sich das Individuum vorerst mit einer gewissen Deutlichkeit bewusst geworden sein muß. Sie setzen einen bis auf einen gewissen Grund entwickelten Verstand voraus, und können diese Entwicklung wohl in ihrer Art fördern und vollenden, aber nicht zweckmäßig zuerst anbahnen. Ist sie, die Mathematik, um das Gleichnis aus ihrer eigenen Terminologie herzuhohlen, so zu sagen, reiner Verstand, so ist die Grammatik dagegen angewandter Verstand, der an der Anschaulichkeit des Wortes und Satzes haftet, und mit der Fantasie und der Gedächtniskraft des Knaben an einem Werk zusammenarbeitet. So muß es sein, wenn die Arbeit in diesem Alter gedeihen soll.
Die Gemeinwirksamkeit der jugendlichen Kräfte muß der angespannteren Thätigkeit einer Einzelnen, besonders einer später zum Durchbruch gelangenden, nothwendig vorausgehen und wie der Vortrag aller Wissenszweige, so soll auch die Anlage des Gesamtunterrichtes für dieses Alter analytisch und nicht synthetisch sein. Daß aber eben in der Grammatik eigentlich doch der Verstand die Hauptrolle spielt, und in jener gemeinsamen Übung unvermerkt Gewalt und Herrschaft gewinnt über die noch regellose Fantasie und dem Gedächtnis Bildner und Leiter wird, das ist gerade das eigentliche Arkanum der Grammatik, welches sie in dieser Beziehung der Verstandesentwicklung unentbehrlich und unersetzlich macht.
II. Was nun fürs zweite den, vom humanistischen Standpunkt aus dem Alterthume herzuhohlenden Stoff zur Übung und Bereicherung des Gedächtnissees betrifft, so ist er der nothwendigste und zugleich unschädlichste von allen, welche diesem Alter gebothen werden können.
Da ein großer Theil der Hauptfrage auf diesem Boden liegt, und die Realisten eben die Ausstaffierung der jugendlichen Gedächtniskammern mit ganz anderen und das gegenwärtige Leben näher berührenden Fächern und Wissensgegenständen begehren, so sei es uns erlaubt, mit etwas mehrerem an diesem Orte zu verweilen.
Der realistische Standpunkt begehrt also einmal Geschichte. Der humanistische seinerseits begehrt sie wahrlich auch. Aber indem sie hierin beide das gleiche wollen, wollen sie allerdings das Gleiche auf verschiedene Weis. Während der Realist alle Geschichten alter Zeiten nur wie Gerüst und Unterlage oder auch als Gegensatz und Folie zu seiner eigentlichen Meinung, zu den Begebenheiten dieser letztern und vorletzten Tage ansieht, und verwendet, und am liebsten schon mit einem Sprunge bei den Staatshändeln und Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts angelangt wäre, führt der Humanistische Lehrer seinen Zögling verweilend und mit Liebe durch die weiten Strecken aller Zeiten, und hält es nicht für Unrecht, vielleicht selbst mit einiger Verletzung des Verhältnisses hierin am längsten zu beharren, und den Schüler fest darin zu gründen.
Und er weiß warum er so handelt. Denn einmahl ist sein Gang ein wahrhaft historischer, nach dem ja die Geschichte selbst vom Anfange anfing und wie das Heute in dem Gestern, so auch das Gestern in dem Vorgestern wurzelt und davon sein Licht und Verständnis erhält.
Dann aber und hauptsächlich ist es gerade der Terrain der alten Geschichte, welcher das eigentlich historische Feld für die frühere Jugend bildet, und auf welchem sie am liebsten zu Hause ist.
Diese Vorliebe ist ein Wink der Natur, eine nicht zu verachtende Anzeige für den Lehrer. In je eigenthümlicherer, von dem Staube, aber auch von den wichtigen Fragen und Aufgaben des heutigen Lebens entfernteren Kreisen sich die Jugend bewegt, desto besser für sie und ihre Zukunft. Der große Inhalt der Geschichte des Mittelalters wie der neueren Zeiten, der Kampf der geistlichen und weltlichen Gewalt in jenem, der Bruch der Glaubenseinheit, die politischen und revolutionären Bewegungen in diesen, verlangen zu ihrem richtigen Verständnis beinahe männliche Kraft und Reife, und ein solches, wie wahres und furchtbares Verständnis muß der Unterricht doch nothwendig erzielen, nachdem einerseits ein Wissen ohne Verständnis schlimmer als Nichtwissen ist, andererseits aber auf eine hingebende Annahme des etwa vom Lehrer ausgesprochenen Urtheils – vorausgesetzt selbst, daß der Lehrer immer das richtige ausspräche – bei dem Geiste der jetzt lebenden Generationen nicht mehr gerechnet werden darf.
Freilich dürfte dann auch am allerwenigsten auf die politischen Parteikämpfe oder Staatsformen der alten Welt, deren naiver Vortrag, wenn nur nicht von dem Lehrer absichtlich Anwendungen gemacht werden, ohne Schaden ist – ein besonderes Gewicht gelegt, oder gar die Streitigkeiten der Patricier und Plebejer in Rom zu einem obligaten Lehrstück aus dem Livius, mit schon vorgeschriebener Nutzanwendung gemacht werden.
Mit jedem gründlichen Vortrage der Geographie erklärt sich der Humanistische Standpunkt mit Vergnügen einverstanden, er fürchtet nur allein, daß etwa in übergroßer Sorgfalt fürs praktische Leben, den industriellen oder merkantilistischen Rücksichten allzu weitläufige Rechnung getragen werde.
Ein ganz besonderes Gewicht wird von Seite des realistischen Standpunktes heut zu Tage auf die Naturwissenschaften sowohl Naturgeschichte als Physik im Gymnasium gelegt.
Wir verhehlen es nicht, daß wir dieselben am liebsten aus dem Gymnasium völlig ausgeschlossen sahen. Die Zeit der Jugend ist unendlich kostbar, und sie zersplittern ist um nichts besser, als sie unbenützt verstreichen lassen.
Am allerwenigsten in diesem Lebensabschnitt darf die Richtung zu einer oberflächlichen Polyhistorie, zu einer fragmentarischen ungründlichen Vielwisserei gegeben werden.
Fassen wir den Standpunkt des Gymnasiums als den der Vorbereitung zur Wissenschaft, so kommt es, um das Wissen zu lernen, gar nicht darauf an, wie vielfältiges, sondern wie gründlich das jetzt Nöthige erlernt werden. Die Naturwissenschaften nehmen in der Bildung des einzelnen Geistes am angemessensten diejenige Stelle in der Zeitfolge ein, die sie in der Geschichte des menschlichen Geistes und der Wissenschaften überhaupt gewonnen haben, sie sind zuletzt eingetreten.
Die Natur des Knaben zieht ihn im Allgemeinen nicht zu ihnen hin, am meisten noch zuweilen zur Naturgeschichte, besonders aber zur Zoologie, auch Botanik. Aber der Vortrag dieser ersteren wird sehr erschwert für dieses Alter, da man doch die Geschlechts- und Geburtsverhältnisse auf die sich hier so vieles gründet, nicht weitläufig wird erörtern wollen.
Botanik wird ohne Kenntnisnahme von lebendigen Pflanzen, d.h. ohne botanischen Gärten und Spaziergänge, die nur mit unverhältnismäßigem Aufwand von Mitteln und Zeit herzustellen und zu bewerkstelligen sind, nichts als todtes Auswendiglernen und nutzlose Gedächtnisqual werden.
Dasselbe gilt von jedem physikalischen Unterrichte ohne hinreichende, kostspielige Apparate.
Überhaupt kann in allen diesen Beziehungen für das Gymnasium nur dürftiges erzielt werden, d.h. unwissenschaftliches.
Das ist aber gerade das wesentliche Merkmal des Gymnasiums, und sein Unterschied von der Realschule, daß jenes dessen Hauptbestimmung als nächste Vorbereitung zur Universität und Einleitung zur wissenschaftlichen Erkenntnis überall wenigstens auf relative Gründlichkeit und Vollständigkeit hindrängt, die Einsicht in den Zusammenhang und die Gründe des Gewussten zum mindesten vorzubereiten hat, während diese, welche nur Kenntnisse zum Bedarf des Lebens oder praktischen Betriebe mancher Gewerbszweige mittheilen muß und soll, das Moment der Wissenschaftlichkeit im Allgemeinen gar nicht anstreben kann, und auf Mittheilung von Resultaten angewiesen ist. Die scharfe und bewusste Auseinanderhaltung dieser beiden Schulen, der gelehrten Schule oder des Gymnasiums und der praktischen Realschule ist von der äußersten Wichtigkeit.
Die Erfahrung hat aber nur zu oft umgekehrt die vollkommenste Vernachlässigung an den Tag gebracht, so daß von einzelnen Professoren auf Realschulen manche Gegenstände bis zur strengsten Wissenschaftlichkeit hinaufgesteigert wurden, während man mitunter auf Gymnasien gemeine Handwerksarbeit machte.
Jene Wissenschaftlichkeit nun, die wir, versteht sich in der bescheidenen Anwendung, die das Alter und die Vorbildung gestatten, dem Gymnasium vorbehalten möchten, setzt am allerwenigsten die größtmögliche Ausdehnung der vorzutragenden Gegenstände voraus, und verträgt sich selbst damit am wenigsten, denn die Wissenschaft ruht nicht in der Breite sondern in der Tiefe.
Was das Bedürfnis gewisser Kenntnisse fürs praktische Leben betrifft, so sei uns, außer der bereits angedeuteten Stellung, welche das Gymnasium hierzu zu nehmen hat, noch etwa folgendes hinzuzufügen gestattet.
Keine Schule kann alles lehren, was der Mensch im Leben braucht, und es kann dem Hause nie so bequem gemacht werden, sich aller Sorge für die Ausbildung seines Sohnes auf die Schule zu entladen.2Dieselbe besitzt keine Geheimmittel oder schrankenlose Kräfte, um alles zu ersetzen, was die Familie, der eigene Fleiß und das Leben für die Bildung des Einzelnen thun müssen; sie kann sich nicht zur Universität gestalten, um allseitige Bildung, noch zur Abrichtungsanstalt, um den Schein derselben für Jeden insbesondere zu gewinnen.
Sie thut darum wohl, auch nichts dergleichen zu versprechen oder stillschweigend in Aussicht zu stellen, sondern indem sie ihre Aufgabe fest begriffen hat, mit klarem Streben zu erklären: „Seht das will ich, das kann ich und das werde ich auch leisten.“
Wir möchten noch eines moralischen Vortheils gedenken, dem die Beschränkung des Gymnasiums auf gewisse Fächer nebenher zu erreichen nicht ermangeln wird, obwohl ich weiß, daß dieser Vortheil gar nicht im Geschmacke der Zeit ist, und daß sie eher das Gegentheil will.
Es ist nämlich dem heranwachsenden Jüngling oder dem Knaben gar nicht zuträglich, daß er in Alles und Jedes, wovon zwischen Männern die Rede ist, auch ein Wort mitzusprechen hat, wo er dann das Unreife gleich für ein Ausgiebiges und Ebenbürtiges zu halten versucht wird, sondern es ist ihm im Gegentheile gut und heilsam, wenn er bei vielen Gelegenheiten im Leben aufmerksam wird, daß es Felder der Erkenntnis gebe, die ihm noch völlig verschlossen sind, und in welche nur mehr befähigte oder wenigstens an Jahren reifere einzutreten gewürdigt werden können.3
Denn der jugendliche Dünkel ist wie die gewöhnlichste, so die gefährlichste und verheerendste Krankheit dieses Alters; er vermag die besten Kräfte zu zerstören, zu entwerthen, oder negativ wirksam zu machen. Diesem Schaden zu begegnen, dürfte eine Rücksicht sein, die manche andere überwiegen kann. Wir haben die Hoffnung der Jugend in welthistorischen Entwicklungen wirksam gesehen.
Diese Erwägungen fügten sich am natürlichsten zu der Frage von Aufnahme der Naturwissenschaften, weil diese gerade am lautesten und allgemeinsten begehrt wird.
Es geschieht dies, wie gesagt vom Standpunkte der Nützlichkeit und praktischen Brauchbarkeit
Aber gewiß auch Musik, der Tanz, das Zeichnen, sind nach vielen Seiten nützlich oder praktisch brauchbar im Leben.
Wollen wir das Alles im Gymnasium lehren? Schon hierin scheint ein Fingerzeig zu liegen, daß jener Standpunkt nicht derjenige sein kann, der das System und die Einrichtung des Gymnasiums bestimmen soll.
Wirklich ist Alles genannte schon gefordert worden, und noch mehr dazu.
Es ist überhaupt eine pädagogische Richtung in der Zeit, oder es ist dies vielmehr die herrschende, welche in der Erziehung Alles gethan zu haben glaubt, wenn sie das Schiff, welches die Lebensfahrt machen soll, mit der größten und mannigfaltigsten Menge von Gegenständen befrachtet, um Steuer und Ruderwerk, um Compaß oder Polarstern völlig unbekümmert.
Diese Richtung aber hat mit dem heutigen Geschrei der Mehrheiten im Allgemeinen das gemein, daß sie Unrecht hat.
Aber es könnte vielleicht der Fall eintreten, daß die Forderungen von Naturwissenschaften oder überhaupt realistischen Inhalt des Gymnasialunterrichtes zu allgemein und dringend würden, um fortgesetzten Widerstand räthlich scheinen zu lassen. Die Frage wird dann aus einer pädagogischen zur politischen und wir maßen uns hierüber kein Urtheil an.
So viel aber glaubten wir von unserem Stand auch noch für diesen Fall bemerken zu können, daß wenn eine Concession gemacht werden muß, sie immer nur als das, was sie ist, als Concession behandelt und durchgeführt werden kann.
Wir haben die Möglichkeit, bei strenger prinzipieller Festhaltung eines, der beiden gegensätzlichen Standpunkte, die Berücksichtigung des Anderen in Nebendingen gleich von vorne her nicht ausgeschlossen und wir können für diesen Fall der unumgänglichen Concession davon eine Anwendung machen; nur daß dann nicht weiter als nöthig ist vorgeschritten, die also concessionierten Gegenstände auf eine geringe Stundenzahl beschränkt, und wie eine Art Erhohlungslectionen zwischen strengeren Beschäftigungen eingeschoben werden.
Moderne Sprachen können, was ihren praktischen, dem Leben zugewandten Theil betrifft, ganz gewiss nicht auf Schulen gelernt werden.
Dazu gehört der eigene Sprachmeister, das Haus, die Umgebung, die beständige Übung.
Die Schule lehrt eigentlich nur den wissenschaftlichen, den metaphysischen Theil der Sprache, die Grammatik, dann etwa die Literatur.
Auf diesem Wege kann es der Schüler allerdings dahin bringen (versteht sich mit dem gehörigen Hausfleiße, den die Schule jederzeit in Anspruch nimmt) die Sprache zu verstehen, zu lesen und etwa fehlerfrei zu schreiben, auch ihre Schriftsteller zu kennen und zu würdigen.
Das wird aber gerade wiederum dem Realisten nicht genügen, und ist ihm zu wenig, und zugleich vielleicht zu viel. Daß gesprochen werde, richtig und geläufig, und damit Brot verdient und Ehre eingelegt werde, ist ihm die Hauptsache und das Produkt der Schule wird ihn, bei ihren besten Willen unzufrieden lassen.
So höre man denn endlich auf, von der Schule zu begehren, was sie nicht zu leisten im Stande ist, und lasse die Forderungen des Lebens dem Leben selber zu gewähren über.
Diese Erwägungen treffen jedoch keineswegs den freien d.h. nicht obligat zu hörenden Vortrag fremder Sprachen im Gymnasium. Es kann nützlich und wünschenswerth sein, daß Jünglinge, deren Fähigkeiten eine umfassendere Anwendung derselben gestatten, nachdem sie etwa eine solche Sprache im älterlichen Hause schon von Kindheit auf praktisch geübt, oder eine solche Übung zu erwerben vorhaben, aufhohlend oder vorbereitend die grammatischen Bedingungen dieser Sprache durch einen gründlichen Schulunterricht sich aneignen, aber was für solche, unter gegebenen inneren und äußeren Verhältnissen, gut und fruchtbar ist, kann nicht für jeden durchs Gymnasium Passierenden zur Regel werden.
Hier wie andernorts ist es nur das Allgemeine, das Aufgedrungene, das Jeden Verpflichtende, wogegen wir uns erklären. Was die Übung und stylistische Vervollkommnung der Muttersprache im Gymnasium betrifft, so wäre das ein Gegenstand besonderer Erörterungen. Die Sache müsste auf eine derjenigen ganz entgegengesetzten Weise angegriffen werden, die heute auf manchem Gymnasium im Schwung ist.
III. Es ist eben drittens der Nahrung Erwähnung geschehen, welche der Fantasie aus dem Inhalte des humanistischen Studiums zukommen soll. Diese Kraft ist in dem jugendlichen Geist neben dem Gedächtnisse die gewaltigste, aber auch zugleich die furchtbarste. Sie unbeschäftigt zu lassen, ist beinahe nicht minder gefährlich, als sie in verkehrter Weise zu beschäftigen, denn sie beschäftigt sich dann selbst verkehrt.4Das Leben unserer Tage ist dazu so abgezogen verständig und prosaisch geworden, daß ihr die richtige Spannung von daher nicht mehr werden kann. In diesem Anbetracht nur ganz besonders haben die klassischen Studien von jeher ihre Probe glänzend bestanden. Wenn man von den Alten besonders immer gesagt hat, daß sie geistig kernig und gesund seien, so heißt das, scheint es wohl vor allem, daß das Ebenmaß ihrer Kräfte weniger als bei uns neuesten Neuen gestört war, daß keine davon unterdrückt war, aber auch keine tyrannisierte. Ihre großen Schriftsteller sind darum nicht bloß große Genies nach dieser oder jener Seite hin, sondern überhaupt große geistige Menschen und wenn sie die Geschichte mit Fantasie schrieben, so – sie auch wiederum mit dem Verstande, nemlich mit Zuziehung des Verstandes wie dort der Fantasie. Diese rege Lebendigkeit aber, welche aus dem harmonischen Zusammenwirken aller Kräfte entspringt, macht nur gerade auf die Seelenkraft der Fantasie den befriedigendsten Eindruck und wirkt auf sie nicht bloß wohlthätig anregend, sondern wahrhaft bildend. Noch kein gesunder Knabe von unverbildeter Einbildungskraft hat die Poesien und Historien der Alten als langweilig oder geschmacklos zurückgestoßen, es üben dieselben vielmehr einen so vollen und nachhaltigen Eindruck auf jugendliche Gemüther, daß viele Männer das Geständnis abgelegt haben, sie hätten es besonders diesen Studien und der darin gewonnenen Richtung zu verdanken, daß sie nachmals an Romanenlektüre keinen Geschmack gefunden und manche fantastische Ausgeburt verdorbener Zeiten mit Ekel von sich gestoßen.
Bei dieser Gesammtlage der Umstände und bei der Wohlthätigkeit und Ergiebigkeit der humanistischen Studien für die Bildung und Nahrung aller aufkeimenden Seelenkräfte, für die Vorbereitung zur höheren wissenschaftlichen Erkenntnis, so wie für die nothwendige Absonderung des ersten Jünglingsalters von den Tagesfragen und der Tagesgeschäftigkeit schiene der Umtausch dieses bestimmten und durch alle Erfahrungen bewährten Systems gegen einen unerprobten, unklaren und auf allen Seiten dienenden Realismus ein für den Geist und das Wohl der künftigen Generationen höchst gefährliches Experiment. Wollte dagegen eingewendet werden, daß unsere Gymnasien ungeachtet des niemals aufgegebenen humanistischen Systems in den letzten Zeiten schlecht genug bestellt gewesen seien, so würden wir das Faktum nicht in Abrede stellen, aber um so entschiedener auf die andere Seite der Sache hinweisen, daß jedes System auch das beste (und es ist kein Zweifel, daß die letzte Auffassungsweise des humanistischen Systems gewiß nicht beste war) nur wenig ist, die Durchführung desselben durch seine lebendigen Träger aber Alles; und daß auch eine Studienverfassung durch ihre Niederschreibung noch nicht vollendet ist, sondern daß ihe Wirksamkeit und Wohlthätigkeit, oder das Gegentheil von beiden, von dem Geiste derjenigen abhängt, die nach ihr zu handeln berufen sind. Diese andere Seite der Sache, oder die Frage von den etwaigen Mitteln der Heranbildung eines Lehrerstandes liegt außer dem Kreise und Zwecke des gegenwärtigen Versuches. So viel aber bleibt gewiß, daß ein falsches oder zweckwidriges vorgeschriebenes System auch die besten Lehrkräfte außer ihre Elemente setzt, ihrer Wirksamkeit Fesseln anlegt, vor Allem aber die Harmonie des Gesammtunterrichtes und damit die Früchte dessen von vorn herein aufhebt.

Es möge noch gestattet sein, das Gesagte und seine Resultate in wenigen, kurz gefassten Sätzen zusammen anschaulich zu machen.
1. Bei jedem Gymnasialplan muß zwischen den beiden einzig möglichen aber gegensätzlichen Wegen des Humanismus und Realismus nothwendig die Wahl gelassen werden.
2. Der humanistische Standpunkt will (mittelst der Sprachen und der Kunde des Alterthums) die jugendliche Seele bilden, ihre Kräfte entwickeln zu höherer und weiterer Erkenntnis die Wege bahnen oder die Grundfesten legen. Sein Ziel ist die intellektuelle Reife des zu erziehenden Geistes, und sein Geschäft ein wissenschaftliches.
3. Der realistische Standpunkt will (mittelst vielartiger, beizubringender Kenntnisse) die junge Seele bereichern. Sie zur Erscheinung und zur Wirksamkeit in Leben geschickt und anstellig machen. Sein Ziel ist die Brauchbarkeit des zu behandelnden Geistes und sein Geschäft ein praktisches.
4. Es bleibt zweifelhaft, ob das so unmittelbar gesuchte Ziel des realistischen Standpunktes auch eben so unmittelbar erreicht werden kann, und es ist nicht zweifelhaft, daß auch das Bestreben des humanistischen Standpunktes in einem viel höheren und nachhaltigeren Sinne praktisch ist.
5. Jedenfalls ist für das Bedürfnis der Befähigung zu den naheliegenden Lebenszwecken durch die Realschulen gesorgt. Diese sind für solche deren Talente oder Umstände den Weg zur vollständigen und gründlichen intellektuellen Bildung welche auf den Gymnasien vorbereitet und an den Universitäten vollendet wird, unzugänglich machen, und es ist gut, daß sie dieses wissen, und der Unterschied beider Unterrichtsanstalten klar liege.
6. Das Gymnasium kann sich nur für den humanistischen Standpunkt entscheiden.
7. Auf demselben kommt es keineswegs darauf an, wie vielerlei, sondern wie gut und gründlich das für den Augenblick zweckmäßige gelehrt werde.
8. Frühzeitige Vielwisserei, die nur ungründlich sein kann, ist dem Knabenalter nicht aufzudringen, denn sie ist demselben zuverlässig intellektuell und moralisch schädlich.
9. Mittelpunkt und Hauptsache des Gymnasiums müssen die klassischen Sprachen und Studien sein und bleiben. Um dieselben haben sich jedes an seinem Orte die anderen humanistischen Studien, Geographie, Geschichte und Mathematik, sowohl Arithmetik als Geometrie zu gruppieren.
10. Naturwissenschaften gehören strenge genommen nicht ins Gymnasium. Müssen sie, besonderer Rücksichten willen, concessioniert werden, so sind sie nach diesem Gesichtspunkte zu behandeln und zu beschränken.
11. Moderne Sprachen liegen völlig außer dem Rahmen des Gymnasiums, in so fern ihr Studium verpflichtend sein soll. Ihr Vortrag auf den Gymnasien als freier Gegenstand kann aber nach Umständen, räthlich und nützlich sein.
12. Das Wohl und die Frucht der Gymnasien hängt aber zumeist und über alles andere von den daselbst beschäftigten Lehrkräften ab, von den angestellten Personen ab, sowohl was ihre wissenschaftliche Tauglichkeit als war deren, in ihren eigenen Überzeugungen und ihrem moralischen Wandel begründete pädagogische Fähigkeiten betrifft.

<Dr. Fick
Kritik des Gymn. Plans>5